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Der GewandhausChor Leipzig bei der Uraufführung von Bernd Frankes „Pran“ im Innenhof des Jorasanko Thakur Bari. Foto: privat
Der GewandhausChor Leipzig bei der Uraufführung von Bernd Frankes „Pran“ im Innenhof des Jorasanko Thakur Bari. Foto: privat
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Die Energie des Werdens und Vergehens

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Bernd Frankes Chorwerk „Pran“ nach Rabindranath Tagore in Kalkutta uraufgeführt
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Er war der erste nicht-europäische Literatur-Nobelpreisträger: Der in Kalkutta geborene Rabindranath Tagore (1861–1941). Sein Werk umfasst indessen weit mehr als Literatur, Tagore war auch Maler und Komponist. Mehr als 2.000 Lieder hat er komponiert. Kunstmusik, die schon zu seinen Lebzeiten die Popularität von Volksliedern erreichte. Bis heute sagt man ihnen in Indien Heilkraft nach. Im Familiensitz der Tagores, dem rötlichen Prachtbau Jorasanko Thakur Bari, finden Kunstfestivals, Theateraufführungen und Konzerte statt. Die Arkaden des Innenhofs rahmten im März eine ungewöhnliche Uraufführung ein: „Pran“ – ein Chorstück des Leipziger Komponisten Bernd Franke (*1959) über Texte und Liedfragmente Tagores.

Wie Tagore selbst ist auch Bernd Franke ein polyglotter Geist. Seit Ende der 90er-Jahre unternimmt er ausgedehnte Reisen durch Südostasien. Und betont die Zusammenhänge: „Das, was in Indien passiert oder das, was in Japan passiert, wie zum Beispiel auch in Fukushima, berührt uns auch“, meint Franke. „Es hat Auswirkungen konkret auf Europa und auf die westliche Welt. Und was wir machen, hat Auswirkungen wiederum auf Asien“. 

Derlei Wechselwirkungen spiegeln sich auch in Frankes Musik wider. Ein Großteil seiner Kompositionen der vergangenen 15 Jahre ist in Asien entstanden oder zumindest konzipiert worden. Die Detailarbeit hat Franke dann in Deutschland erledigt. Jetzt hat er seine Musik erstmals quasi an die Ursprünge zurückgeführt. Eine neue Perspektive im Auftrag des Goethe-Instituts Kalkutta, das derzeit ein „Deutschlandjahr“ veranstaltet, „Deutschland und Indien 2011–2012 – Unbegrenzte Möglichkeiten“. Anlass für den Kompositionsauftrag war Tagores 150. Geburtstag.  

Einen Monat lang hat Franke in Kalkutta verbracht, ist morgens um halb sechs auf den Markt gegangen, hat sich Stunden lang treiben lassen, die Menschen beobachtet. Während dieser Zeit hat er aber auch intensiv nordindische Musik studiert. Der Fokus lag auf den Sozialsystemen. Individualität wird gemeinhin als europäische „Erfindung“ vereinnahmt, musikalisch allerdings sieht die Sache anders aus: Die Hierarchie des Orchesters, der Despot am Pult, europäisches Tuttidenken – all das ist in Indien unbekannt. Dort agieren Solisten im Ensemble. Strukturen, die sich auch in Frankes Chorstück finden: Zunächst etabliert sich eine „Atmosphäre“ über modale Linien, dann fächert sich der Chor auf – musikalisch wie szenisch. Die Sänger bewegen sich kreisförmig um das Publikum, die Partitur verlangt ausdrücklich, mit dem bengalischen Text „nicht synchron“ einzusetzen, es entsteht eine 40-stimmige Textur – die aleatorische Freiheit des Individuums. Ein Verweis auf den improvisatorischen Charakter indischer Musik. 

Der Mittelteil von „Pran“ ist die Reminiszenz an europäische Tradition: Das bislang linear verwendete Material wird nun gestapelt, Franke verwendet vertikale Strukturen: Die weitgehend blockartigen Akkorde werden in deutscher Sprache gesungen. Der Chor zieht sich wieder zu einem Block auf der Bühne zusammen. 

Anschließend nähert sich Franke wieder nordindischen Denkweisen und Musizierhaltungen an: Es mischen sich bengalische Textfragmente mit deutschen Übersetzungen. Vorbild sind Ragas, eben mehr als ein bloßer Tonvorrat im europäischen Sinne – ein „Kommunikationsmodell zwischen Tönen“,  verbunden mit einer spezifischen emotionalen Qualität.

„Ganzheitlichkeit“ ist einer der zentralen Begriffe des Komponisten. Frankes Musik ist stets auch Bekenntnis zum jeweiligen kulturhistorischen Umfeld. Es sind „hunderte, vielleicht sogar tausende unterschiedliche kleine Mosaiksteine, welche dann im Ergebnis ein musikalisches oder küns-

tlerisches Ergebnis darstellen“, sagt er. „Sprache, Bewegung, Religion, soziale Regeln, Klima, Natur, Gestik, Tanz, Umwelt, Geschichte und viele weitere Faktoren bedingen sich unter- und miteinander, erzeugen in einer sich immer wieder neu erfindenden Kontextualität Musik und Kunst im Allgemeinen.“

„Pran“ hat Bernd Franke sein Chorwerk überschrieben. Pran, so schreibt er, ist der Atem in den Lebewesen, der Atem, der alles am Leben erhält. Er ist die Lebensenergie, die Essenz des Lebens, denn ohne Atem erlischt das Leben. Gleichzeitig steht „Pran“ auch für die Lebensenergie außerhalb des Menschen und der Tiere, nämlich in der Natur und im Kosmos. 

Darin drückt sich Pran als die Energie des Werdens und Vergehens aus: Das Wachsen und Welken der Bäume und Blumen, das Rauschen der Bäche, Sturm, Blitz, Sonne, Sterne und Mond – alle Naturvorgänge sind eine Wirkung von Pran. 

Es sind tief greifende, spirituelle Texte, die der Komponist aus dem Werk Tagores ausgewählt hat. Aber sie sind verbunden mit menschlichen Erlebnissen: Bei einer Autofahrt während seines Studienaufenthalts geraten Franke und seine Begleiter in ein Gewitter. Einer der Männer beginnt zu singen – wie sich später herausstellt ein Tagore-Lied, das sich mit Klima, dem Gewitter, der Atmosphäre auseinandersetzt. Solch ein Naturbezug, aber auch die Hingabe an die Lieder von Tagore haben Bernd Franke, wie er sagt, tief beeindruckt.

Nahegegangen sind ihm aber auch die Spätfolgen der europäischen Kolonialgeschichte in Südostasien. Franke erlebt die Verdrängung angestammter Traditionen durch die Europäer als extremen Angriff auf das Selbstwertgefühl der Inder und anderer Völker: „Bis zum heutigen Tag hat man das Gefühl, dass der Stolz und das Selbstwertgefühl sehr stark verletzt wurden durch die Kolonialmächte.“ 

Franke antwortet darauf mit einer intensiven Auseinandersetzung mit nordindischer Kultur im Allgemeinen und mit dem Werk Tagores im Besonderen. Der Schlüssel dazu liegt in der Offenheit, der Toleranz, dem Respekt des Komponisten. Die Folge: „Die Menschen dort waren fast besessen, leidenschaftlich, weil die wussten, dass ich das mache.“ Franke wird von den Einheimischen unterstützt, aber auch von Männern wie Martin Kämpchen, einem Tagore-Experten, der seit Jahrzehnten bei Kalkutta lebt und Lars-Christian Koch, einem Ethnologen und Musikwissenschaftler aus Berlin.

Am 14. März ist „Pran“ vom GewandhausChor Leipzig unter der Leitung von Gregor Meyer uraufgeführt worden – im Jorasanko Thakur Bari, dem Geburtshaus Tagores, wie Franke meint, „dem absoluten Heiligtum“ in Bengalen.

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