Als Architekt und Ingenieur entwarf er Pavillons, futuristisch geschwungene Kuppeln, Raum-Installationen, Polytope. Ein Architekt und Ingenieur war er aber auch in der Musik. Iannis Xenakis (1922–2001) schuf rund 150 Kompositionen auf der Basis mathematischer Entwürfe.
Es sind galaktische Gebilde – Raumzeit-Visionen von kosmischem Ausmaß. Iannis Xenakis sprach von „Wolken, Nebelsternen, Staubgalaxien“. Mit seiner Musik, sagte er, wolle er die „Untiefen des sternenbedeckten Himmels heraufbeschwören“. Komponieren sei für ihn nichts anderes als ein Entwerfen von „Formen, Bewegungen, Intensitäten, Farben“. „Man stellt sie sich vor, kombiniert sie, lässt sie gegeneinander stoßen und sich entwickeln wie die leuchtenden Landschaften der Galaxien und interstellaren Gase, die von jungen, blauen Sternen angestrahlt werden.“ Wenn man will, kann man in Xenakis’ Musik bizarre Science-Fiction-Träume entdecken, kosmologische Welt-Konstruktionen. Xenakis war ein visionärer Musikarchitekt. Er schuf komplexe, bewegte, kosmische Klangplastiken, die man beinahe sehen und greifen möchte. Musik sei keine Sprache, meinte er einmal. Ein Musikstück sei vielmehr „eine Art Felsblock“.
Weil sich Xenakis beim Komponieren mathematischer Methoden bediente und dabei an die physikalische Wirklichkeit des Kosmos zu rühren schien, wurde seine Musik schon in den 1950er Jahren vielfach als „objektiv“ empfunden. Der Musikologe und Pianist Robert Kolben verstand sie als Ausdruck des neuen Weltbilds der Physik: „Der Musiker greift zur Mathematik als zur einzigen dem heutigen Denken zugänglichen Wahrheit. Man hört die Harmonie der Welt. Heute ist sie natürlich eine andere als die Harmonie der Welt, die Bach hören durfte und für uns niederschrieb.“ Der Schriftsteller Milan Kundera deutete die „Objektivität“ in Xenakis’ Musik auch in einem politischen Sinn – als Befreiung von falschem Schein, von einer subjektiven Gefühligkeit, die nur der „Überbau der Brutalität“ sei. In Xenakis’ Musik werde die Welt nicht mehr mit Gefühlen übertäubt; vielmehr verwandele sie sich in eine „vom Schmutz reingewaschene, von der sentimentalen Barbarei freie Schönheit“. Xenakis habe sich, so Kundera, „für den objektiven Klang der Welt gegen den der Subjektivität einer Seele“ entschieden.
Dramatische Jahre
Als Xenakis mit 25 Jahren nach Paris kam, lag bereits eine bewegte, dramatische Zeit hinter ihm. Aufgewachsen in Rumänien, hatte er mit fünf Jahren seine Mutter verloren und war mit zehn Jahren aufs Internat in Griechenland geschickt worden. Mit 16 ging er nach Athen, um sich auf ein Studium der Architektur und des Ingenieurwesens vorzubereiten. Das Studium hatte kaum begonnen, als 1940 die Truppen Mussolinis Griechenland überfielen. Es folgten Jahre des Krieges – gegen die Italiener, gegen die Deutschen, schließlich gegen die Briten, die die griechischen Monarchisten unterstützten. Im Straßenkampf gegen britische Panzer erlitt Xenakis 1944 eine schwere Kopfverwundung und überlebte nur knapp. Seine linke Gesichtshälfte blieb entstellt – daher sieht man auf Fotos meist nur die andere Seite. 1947 gelang ihm ein erster Abschluss an der Universität, aber gleichzeitig begann das autoritäre griechische Regime, ehemalige Widerständler zu inhaftieren. Der Student floh mit falschen Papieren ins Ausland, nach Paris. In Abwesenheit wurde er damals in Griechenland zum Tode verurteilt.
In Frankreich begann Xenakis eine duale Laufbahn als Bau-Architekt und Klang-Ingenieur. Er wurde Mitarbeiter im Studio des Star-Baumeisters Le Corbusier, aber auch Meisterschüler des Komponisten Olivier Messiaen. Beide Aktivitäten sah er in enger Verbindung miteinander: Xenakis’ architektonische Entwürfe tendieren ins Abstrakte und Körperlose, seine Musik dagegen suggeriert Raum und Architektur. Beiden gemeinsam ist die mathematische Kalkulation. Der Philips-Pavillon, den er für die Brüsseler Expo (1958) entwarf, war für ihn nur eine weitere Anwendung hyperbolischer Parabelflächen, deren Mathematik er schon für seine Komposition „Metastasis“ (1955) genutzt hatte. Über seine Raum-Licht-Architektur sprach er kaum anders als über seine Klang-Konstrukte. Beim „Diatope“ (1979), einer Multimedia-Installation für den Centre Pompidou in Paris, ging es für ihn um „Figuren und Figurationen, die sich durchdringen, einander auslöschen, voneinander abprallen und sich neu bilden“. Weil Xenakis klare, mathematisch fundierte Musikkonzepte besaß, soll Messiaen ihm sogar geraten haben, sich gar nicht erst mit Kompositionsstudien aufzuhalten.
Die stochastische Musik
Nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten die Serialisten den Musikdiskurs. Xenakis hat die inneren Widersprüche des Serialismus immer kritisiert. Wenn alle musikalischen Parameter determiniert sind, so sagte er, kommt die Musik zum Stillstand. Oder mit anderen Worten: Eine Super-Polyphonie klingt letztlich wie eine statische, gesichtslose Klangmasse. Auch andere Komponisten – Boulez, Stockhausen, Cage – versuchten in den 1950er Jahren, das „Indeterminierte“ in die Musik zurückzubringen, meist in Gestalt des „Zufalls“. Xenakis, dem Mathematiker, war das zu beliebig: Auch der Zufall sollte kalkulierbar sein, und zwar mithilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf der Basis großer Zahlen. Im Widerstand gegen die „Überdeterminiertheit“ der seriellen Musik schuf Xenakis also ein noch umfassenderes mathematisch-logisches System – er nannte es „stochastisch“. „Mein Vorschlag war eine Welt der Klangmassen, gewaltiger Gruppen von Klangereignissen, Wolken und Galaxien, die von neuen Charakteristiken bestimmt sind, etwa Dichte, Ordnungsgrad, Veränderungsquote.“
Stochastische Wahrscheinlichkeiten sind die Grundlage vieler „natürlicher“ Massenphänomene – etwa beim Flug von Vogelschwärmen, in der Wolkenbildung oder in der Entwicklung von Sternennebeln. Solche „natürlichen“ Vorgänge sah Xenakis als Vorbilder seines Komponierens. Als weitere Analogien nannte er akustische Phänomene wie den Gesang der Zikaden oder das Prasseln von Hagelkörnern und Regentropfen. Ausführlich erläuterte er das Prinzip am fiktiven Beispiel eines politischen Demonstrationszugs, durch den verschiedene Kampfrufe schallen, bis die Menschen durch eine Ordnungsmacht mit Waffengewalt zerstreut werden. „Nachdem optisch und akustisch die Hölle los war, explodiert eine Stille voller Verzweiflung, Staub und Tod. Die statistischen Gesetze dieser Vorgänge, unabhängig von ihrem politischen oder moralischen Kontext, sind dieselben wie bei den Zikaden oder dem Regen. Es sind die Gesetze des Übergangs von totaler Ordnung zu totaler Unordnung – auf kontinuierliche oder explosive Weise. Es sind stochastische Gesetze.“
Mathematik und Intuition
So wie die Serialisten alle musikalischen Parameter dem Reihenprinzip unterordnen, stellt Xenakis sie unters Prinzip der Wahrscheinlichkeitsrechnung. „Dichte, Dauer, Register, Tempo und so weiter, alles kann dem Gesetz der großen Zahlen unterworfen werden – mit den notwendigen Annäherungen.“ Die mathematischen Grundlagen für stochastische Klangwolken- und Tonschwarm-Verläufe können freilich kompliziert sein. Maxwell-Boltzmann-Verteilung, Gauß-Laplace-Pyramide, Markow-Ketten, Boolesche Algebra, Korrelationskoeffizient, Poisson-Verteilung, Chaostheorie, mathematische Spieltheorie, Wiener-Lévy-Theorem und ähnliche mathematisch-logische Errungenschaften gehören nicht gerade zum alltäglichen Werkzeug von Musikern. Anfangs hatte Xenakis nur einen Rechenschieber. Später verwendete er Computerprogramme. Als er seine letzten Werke schrieb (um 1997), war der 386er PC noch der allgemeine technische Standard.
Mathematik und Computer sind in Xenakis’ Musik jedoch lediglich Arbeitsmittel – die künstlerische Instanz bleibt der Mensch. Am Beginn einer Komposition stehe „eine Gehörvorstellung oder eine optische Vorstellung“, so Xenakis. Dann gehe es darum, die Ausgangsdaten zu definieren und die Verfahrensmittel festzulegen – ein „abstraktes Gerippe“ von Wahrscheinlichkeits-Formeln. „Die Herausforderung ist, mit einem Minimum an Prämissen eine Musik zu schaffen, die für eine zeitgenössische ästhetische Sensibilität interessant ist.“ Bei der Durchführung der mathematischen Verfahren können Computer einen Teil der Arbeit übernehmen. Entscheidend aber ist das Klangergebnis: Es ist bei jedem Durchlauf des „stochastischen Komponierens“ natürlich ein anderes. Über die endgültige Werkform entscheidet schließlich der Komponist. „Ich prüfe alle Daten, bis ich die wirkungsvollste Kombination gefunden habe. Man muss ein interessantes Resultat bekommen.“ Xenakis ging es beim musikalischen Ergebnis nicht nur um mathematische Logik, sondern auch um die Logik menschlicher Emotion. „Der Mensch denkt mit dem Bauch und fühlt mit dem Kopf.“
Werk und Interpret
Die größte Stärke von Xenakis’ Musik ist ihre Überzeugungskraft. Aus dem Zusammenspiel von Mathematik und Intuition sind Kompositionen entstanden, die durch Wucht, Dynamik, Virtuosität, Schlüssigkeit und visionäre (galaktische) Größe jedes Publikum mitreißen können. Xenakis’ erster großer Erfolg war das Orchesterwerk „Métastasis“ (1955) für 61 Instrumentalisten – die Klangparallele zum Philips-Pavillon in Brüssel, aber noch ohne „stochastische“ Techniken. Die Komplexität dieses Stücks sei, so schrieb Xenakis, nicht zuletzt ein Versuch, die Überlegenheit menschlicher Interpreten über die (damals erst aufkommende) elektronische Musik zu demonstrieren. In manchen Werken hat Xenakis dagegen die spieltechnischen Möglichkeiten der Interpreten bewusst überfordert. Seine Klavierstücke wie „Herma“ (1961), „Evryali“ (1973) oder „Mists“ (1981) enthalten unlösbare Schwierigkeiten, zum Beispiel die Ausführung dichtester, exakt notierter Tonhaufen oder Klangwolken. Gut möglich, dass Xenakis hier mit der Unzulänglichkeit des Interpreten ein weiteres „stochastisches“ (indeterminiertes) Element ins Spiel bringen wollte. Es könnte aber auch sein, dass er bereits auf digitale, automatische Realisierungen spekulierte und deshalb die mathematischen Ergebnisse seiner Verfahren nur unzureichend den menschlichen Interpreten angepasst hat.
Bekannt ist Xenakis nicht zuletzt für seine Werke für Perkussions-Ensemble, darunter „Persephassa“ (1969) und „Pléïades“ (1978). Die wechselnde Dichte perkussiver Muster kommt seiner Idee „räumlicher“ Klangmassen sehr entgegen. Dabei kann die Verdichtung der Rhythmen so weit gehen, dass quasi stockende Klangnebel entstehen. Xenakis kannte die große psychische Wirkung dieser kosmisch anmutenden Musik-Architektur. Im Zusammenhang mit „Pléïades“ sprach er von „Transformationen, die den Zuhörer in ihren Strudel reißen, als zögen sie ihn einer unvermeidlichen Katastrophe oder einem verborgenen Universum entgegen.“