Bei der Präsentation von Thomas Hengelbrocks erster europäisch-kubanischer Orchesterakademie kommt im Juni Beethovens „Eroica“ aus den Lautsprechern. Es handele sich keineswegs um „sein“ NDR-Sinfonieorchester, wie der Chefdirigent des Hamburger Klangkörpers in einem Konferenzraum am Flughafen betont, sondern um ein Studentenorchester, mit dem er vor zwei Jahren auf Kuba gearbeitet habe. In der Tat: Eine vitale Einspielung, die Hengelbrocks Begeisterung für kubanische Nachwuchsmusiker nachvollziehbar macht.
Diese Erfahrung war für Hengelbrock der Auslöser, mit seinen Dozenten von der Balthasar-Neumann-Akademie ein Projekt anzustoßen, bei dem er nun auf „Stetigkeit“ hofft: „Wir kommen wieder“, hatte er schon den kubanischen Studenten versprochen, deren „Hunger nach Austausch und Information“, deren „Hunger auf die freie Welt“ ihn beeindrucken. Hengelbrock dankt Michael Herrmann, dem Intendanten des Rheingau Musik Festivals (RMF), der die erste „Cuban-European Youth Academy“ (CuE) in das Programm dieses Sommers aufgenommen hat. Herrmann war selbst auf Kuba und hat den Studenten Instrumente mitgebracht. Dem Festival wiederum helfen bei der Finanzierung der rund 250.000 Euro teuren, zweiwöchigen Orchesterakademie diverse Sponsoren und Stiftungen. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hatte die Schirmherrschaft übernommen.
Ende August dann lässt sich im Wiesbadener Kurhaus eine erfreuliche Bilanz der ersten „Cuban-European Youth Academy“ ziehen: Hengelbrock dirigiert Schumanns d-Moll-Sinfonie, die er, ebenfalls in der Erstfassung, als „Visitenkarte“ mit dem NDR-Orchester eingespielt hatte. Mit stürmischen Tempi verbindet sich in Artikulation und Phrasierung eine Gestaltungstiefe, die auch für die Interpretation von Mozarts A-Dur-Konzert charakteristisch ist. Als Solistin steuert Arabella Steinbacher hier die makellose Schönheit ihres schlackenlosen Tons bei. Das hinreißende Engagement des jungen Orchesters aus kubanischen und europäischen Studenten begeistert nach zweiwöchiger Probenphase das Publikum und bestimmt auch die zweite Konzerthälfte mit kubanischer Musik.
Das größte Gastgeschenk für die Zuhörerschaft ist die Uraufführung eines gerade fertiggestellten Orchesterwerks aus der Feder der Geigerin Jenny Peña Campo: „Danzón“ ist ein Opus von ganz unbefangener filmmusikalischer Opulenz, dabei geschickt instrumentiert und von jener rhythmischen Finesse, die als Markenzeichen kubanischer Musik gilt. Die Komponistin konnte man später in einer öffentlichen Probe übrigens auch als vorzügliche Geigerin erleben, die – als spontane Einlage – mit leichtem Bogen eine rasant-spritzige Interpretation von Mozarts D-Dur-Divertimento KV 136 anführte.
Offenbar ließen sich die 30 kubanischen und 30 europäischen Nachwuchs-Musiker, die im Wilhelm-Kempf-Tagungshaus in Wiesbaden-Naurod untergebracht waren, in ihrer Musizierlust ohnehin kaum bremsen: „Die spielen schon vor dem Frühstück“, staunt Hengelbrock, den man bei einer Orchesterprobe als ungemein inspirierenden, in seinen plastischen Erläuterungen munter allerlei Sprachen mischenden Orchesterpädagogen erlebt. Viel Spaß mit dem Orchester hat Arabella Steinbacher als Solistin in Mozarts A-Dur-Violinkonzert. In der Probenpause zeigt sie sich „total beeindruckt“ von „Qualität, Energie und Lebensfreude“ dieses Klangkörpers jenseits der Profi-Routine. Wie stark dabei die Impulse sind, die von den jungen Kubanern kommen, hat das Publikum des Festivals da schon an zwei Abenden erlebt, in einer bunten „Kubanischen Nacht“ mit Salsa-Band im Schlachthof und an einem Kammermusikabend auf Schloss Johannisberg. Ein Alte-Musik-Konzert mit Dozenten der Balthasar-Neumann-Akademie erweiterte das Spektrum zusätzlich. Hengelbrock hatte bereits in seiner Präsentation auf den pädagogischen Anspruch seiner Balthasar-Neumann-Akademie verwiesen und für alle Studenten einen „Crash-Kurs“ in Historischer Aufführungspraxis angekündigt. Es wird aber auch im Workshop getrommelt: Die europäischen Musiker sollten vom kubanischen Rhythmusgefühl und dem „großen improvisatorischen Moment“ der Musik von der Insel profitieren.
In einer Podiumsdiskussion ließen Festival und NDR-Chefdirigent Hengelbrock schließlich auch ein wenig hinter die Kulisse aus Partystimmung, Salsa und allerbester Klassik-Laune blicken. Für Hengelbrock ist Kubas politische Öffnung nicht nur mit Hoffnungen, sondern auch mit Befürchtungen verbunden: Das „gefräßige Maul“ des US-amerikanischen Raubtier-Kapitalismus hat er schon in Havanna gesichtet. Beim auf Sponsoring basierenden RMF, mit 153 Veranstaltungen und rund 106.000 Besuchern einem der größten deutschen Festivals mit Klassik-Schwerpunkt, zeigt sich diese Wirtschaftsform allerdings eher von der zahmen, sanft schnurrenden Seite und macht sich für Hengelbrocks Projekt stark. Auf dem Podium sitzt auch Jürgen Nicklaus, der als Gesellschafter der Stefan Messer Group mit Industriegasen handelt und reiche Kuba-Erfahrung hat. „Es tut sich sehr viel“, sagt Nicklaus, der auf der Insel auch „sehr große Erwartungen“ registriert. Viele kleine Privatrestaurants und Geschäfte würden gegründet. Eine gewisse Skepsis gegenüber einer wirtschaftlichen Zukunft im Zeichen von McDonald’s und anderen Global Playern wird aber nicht nur von Hengel-brock, sondern auch von kubanischen Gästen geäußert.
Nicht nur bei Hengelbrock, sondern auch beim RMF-Intendanten scheint es nun den festen Willen zu geben, die „Cuban-European Youth Academy“ im Festival-Programm zu etablieren. „Wir sind im Gespräch“, sagt Michael Herrmann und stellt Kuba-Präsenz „in kleinerer Form“ für 2016 in Aussicht. Eine Weiterführung der Akademie soll es dann 2017 geben – wenn die Finanzierung gesichert werden kann. Dem Profil des Rheingau Musik Festivals würde eine regelmäßige Nachwuchs-Akademie, die das Schleswig-Holstein Musikfestival seit Jahrzehnten im Programm hat, nur gut tun: als Frischzellenkur neben bisweilen arg stromlinienförmigen Tournee-Programmen der Orchester und Ensembles.