Das öffentliche Gedenken heftet sich gerne an Jahrestage. Mit der Routine des Rituals kehrt es Jahr für Jahr wieder und ist immer beides zugleich: Lippenbekenntnis und doch auch wesentliche Form der Erinnerung. Der 60. Jahrestag des Kriegsendes macht es dem Konzertleben dabei doppelt schwer, weil er mit Beethovens 9. Sinfonie nicht schnell zu befriedigen ist, sondern angesichts der Wucht des Geschehenen eine auch musikalisch tiefere Auseinandersetzung fordert. Dabei muss es nicht, wie in der Debatte um das 2.711 Stelen umfassende Holocaust-Mahnmal, gleich darum gehen, nicht nur den Opfern zu gedenken, sondern auch zugleich auf die Täter zu verweisen. Es könnte schon reichen, wenn die musikalischen Lösungen spezifisch erscheinen und etwa einen lokal-geschichtlichen Bezug suchen. Ein grober Blick auf den Konzertplan quer durch Deutschland lässt allerdings den Eindruck entstehen, das sei eher die Ausnahme als die Regel.
Im musikalischen Gedenken rund um den 8. Mai 1945 gibt es freilich auch in diesem Jahr Musterlösungen. Das Konzert der Jungen Deutschen Philharmonie etwa, am 9. Mai aus Anlass der Eröffnung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in der Berliner Philharmonie gehalten, ist eine. Mit einem programmatischen Wurf, der auf das eine große, repräsentative Werk verzichtet, sondern dagegen sein Thema umkreist, von verschiedenen Seiten beleuchtet, Schlaglichter wirft. Zu Anfang Brahms Tragische Ouvertüre, als Verweis, wie Sonja Epping, Geschäftsführerin der Jungen Deutschen Philharmonie in der Mai-Ausgabe der nmz betonte, auf eine (glückliche) Epoche vor dem Tausendjährigen Reich. Dann Stücke unmittelbar Betroffener: Das Cello-Konzert von Ernst Toch, der vor den Nazis ins US-amerikanische Exil floh, das Klavierkonzert Erwin Schulhoffs, der 1942 in einem deutschen Konzentrationslager starb. Schließlich mit Wolfgang Rihms Drei Requiem-Bruchstücken der Blick zurück aus der Gegenwart. Das Zentrum indes bildet das Unfassbare selbst: Arnold Schönbergs atemraubender, geradezu erdrückender „Überlebender aus Warschau“, den Michael Gielen bereits in den 70er-Jahren in Beethovens 9. Sinfonie einbaute, um die Gedankenlosigkeit des Gedenkens zu thematisieren.
Die Junge Deutsche Philharmonie, die das Konzert auch inhaltlich ausarbeitete, hat ihre Sonderstellung im Musikbetrieb damit aufs Neue bewiesen. Kein Programm im Umfeld des 8. Mai näherte sich dieser konzeptionellen Kompaktheit an. Allzu oft griff man zum Naheliegenden, zu Benjamin Brittens „War Requiem“, das er 1962 anlässlich der Wiedereinweihung der von deutschen Bombern zerstörten Kathedrale in Coventry geschrieben hatte. In München in der Philharmonie am Gasteig war es zu hören, in der Philharmonie in Berlin, in der Beethovenhalle in Bonn und auch überall in den Provinzen der Region. Brittens „War Requiem“ ist, polemisch gesagt, die 9. Sinfonie des Kriegsgedenkens. Ein Werk mit sicherer Wirkung und gewaltigem Aufwand, auch in seinen äußeren Dimensionen ungemein repräsentativ, wie einige Veranstalter unter der Hand zugeben, und also „dem Anlass angemessen“. Gerade Chöre suchen das Werk, weil es sie zugleich fordert und ausstellt, und initiieren eine Aufführung. Oft geraten sie zu offiziellen Veranstaltungen: Die vom Karl-Forster-Chor Berlin maßgeblich getragene Interpretation in der Philharmonie der Hauptstadt stand unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, das von Ralf Otto ge-leitete, vom Münchner Bach-Chor angestoßene Konzert im Gasteig konnte sich mit der Anwesenheit von Oberbürgermeister Christian Ude schmücken. Da war es für das Münchner Rundfunkorchester, dessen Zukunft lange ungewiss war und gerade erst gesichert wurde, selbstverständlich, den eigenen Terminplan kurzfristig zu ändern und Präsenz zu zeigen, wie Gitta Jäger, Disponentin des Rundfunkorchesters, betont. Wenn die Stadt sich derart öffentlich im Musikleben zeige, dürfe ihr Rundfunkorchester gerade angesichts der gespannten Situation nicht fehlen. Eigene Pläne, selbst im ehemaligen KZ Dachau zu spielen, scheiterten schon vor mehr als einem Jahr – hauptsächlich aus ganz aufführungspraktischen Gründen.
Britten selbst begriff sein „War Requiem“ im übrigen nicht nur als Werk der Erinnerung, nicht nur als Mahnung und Anklage, sondern auch als ein Beitrag zur Versöhnung. An der Uraufführung 1962 beteiligten sich, auf ausdrücklichen Wunsch Brittens, Interpreten zuvor verfeindeter Nationen. Diese Symbolik wurde auch am 60. Jahrestag des Kriegsendes häufig aufgegriffen, in der Beethovenhalle Bonn etwa, in der sich der Knabenchor des New College Choir Oxford, das Vokalensemble Chor Opéra Lyre Paris, der Kammerchor Polski Kameralny Gdansk und der Philharmonische Chor der Stadt Bonn zusammenfanden, unterstützt von internationalen Vokalsolisten, dem Philharmonischen Orchester Köln und der Kam-merphilharmonie St. Petersburg. Das Konzert selbst, von der Bonner Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann als „Requiem für den Frieden“ gedeutet, wurde von einem breiten Rahmenprogramm und, eminent wichtig, durch ein Projekt an neun Schulen begleitet und vorbereitet. Ohnehin stand die Musik zum 60. Jahrestag der Befreiung selten isoliert da, oft bildete sie das festliche Zentrum eines sehr viel größeren, alle Sparten umfassenden Gedenkens.
Für Alexander Hollensteiner, Dramaturg der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, kam Brittens „War Requiem“ dagegen nie ernsthaft in Frage. Er suchte nach einem tragenden Stück fernab des offiziellen Pfades – und fand Henryk M. Góreckis 3. Sinfonie, die „Sinfonie der Klagelieder“, selbst überaus populär, selbst auch überaus wirksam, aber doch vor allem still, ohne die große Geste, mehr nach Innen als nach Außen zielend. Im kühlen Schweriner Dom fand sie in der Norddeutschen Philharmonie Rostock unter der Leitung von Generalmusikdirektor Peter Leonhard ihre Interpreten – man folgte ihr, wie Hollensteiner erinnert, mit gespannter Aufmerksamkeit.
Bei der Wahl von Góreckis 3. Sinfonie war auch entscheidend, erklärt Hollensteiner, dass man ein Stück suchte, das die sowohl geographische als auch historische Nähe Mecklenburg-Vorpommerns zu Polen reflektiert und darüber hinaus auf das Leiden des Zweiten Weltkrieges Bezug nimmt. Die „Sinfonie der Klagelieder“, vom Polen Górecki komponiert, erschien ihm da geradezu unausweichlich – vor allem auch, weil er ausdrücklich nach Musik fahndete, die im Ritual des Gedenkens nicht zu den „üblichen Verdächtigen“ gehört.
Zugleich wirkt Góreckis 3. Sinfonie wie der perfekte Kompromiss. Sie ist zeitgenössisch und doch zahm, sie bezieht sich auf die Verbrechen des Tausendjährigen Reiches und doch erschreckt sie nicht.
Sie vermeidet gar die Konfrontation, zieht sich zurück in klagende Stille, die ebenso zeremoniell wirken kann wie der weltumarmende Pathos von Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“. Schließlich ist überhaupt unklar, was ein Gedenktag wie der 8. Mai überhaupt leisten will, leisten kann. Ist es ein Tag, an dem Musik aufrütteln soll – oder ist sie nur Teil eines zeremoniellen Korsetts, das kollektive Erinnerung ermöglicht? Einig ist man sich nur darin, dass Triumph nicht möglich ist. Doch aber Hoffnung. Ausdrücklich wünschte sich Lothar Zagrosek zum Schluss seines Konzerts mit der Jungen Deutschen Philharmonie zur Eröffnung des Holocaust-Mahnmals Schönbergs Psalm Nr. 1 „O du mein Gott“. Hoffnung aber muss sich dem Grauen stellen, aus dem sie erwachsen soll. Zagrosek und die Junge Deutsche Philharmonie taten das mit ihrem musikalischen Programm, wie viele andere auch. Nur aber auf Bach zurückzugreifen oder auf Mozarts „Requiem“ oder auf Bruckners „Te Deum“, scheint dagegen zu wenig. „Denn nur wer die Vergangenheit kennt“, wusste schon Wilhelm von Humboldt, „hat eine Zukunft.“ Das gilt heute, 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und im Angesicht des drohenden Verstummens der letzten Überlebenden, mehr denn je.