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Die Wiedererfindung des Klavierspiels

Untertitel
Ein Kompendium für Anfänger und Fortgeschrittene
Publikationsdatum
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György Kurtág: Játékok – Spiele (für Klavier), Band V, Editio Musica Budapest Z. 14 002.Daß es nicht nötig ist, im ersten Klavierunterricht immer wieder auf Czerny oder Burgmüller & Co., auf Menuette oder Sonatinen der letzten Jahrhunderte zurückzugreifen, ist spätestens seit dem „Mikrokosmos“ von Béla Bártok musikpädagogisches Allgemeingut. Seit 1979 gesellt sich nun an die Seite dieses Klassikers Band für Band ein dem „Mikrokosmos“ durchaus ebenbürtiges Kompendium von Klavierstücken (nicht nur) für Anfänger. Dabei handelt es sich keinesfalls um „eine Klavierschule, aber auch keine lose Sammlung von Stücken. Sie ist eine Möglichkeit zum Experimentieren und keine Unterweisung im Klavierspiel“, wie das Vorwort vermerkt. Es stammt von einem Komponisten, der in der Musikgeschichte der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts bereits deutliche Spuren hinterlassen hat: dem Ungarn György Kurtág, geboren 1926 in Lugosch/Rumänien. 1979 ist der erste Band seiner „Játékok“, zu deutsch „Spiele“ für Klavier, erschienen. Seitdem ist diese Sammlung kleiner bis kleinster Klavierstücke für zwei oder für vier Hände an einem oder zwei Klavieren ständig gewachsen. Vorgestellt wurde in der Edition Musica Budapest nun der von András Wilhelm wie gewohnt hervorragend edierte fünfte Band der „Játékok“ (Klavier zweihändig). Erst Anfang der achtziger Jahre wurde eine größere Öffentlichkeit auf das Schaffen dieses sich in der Traditionslinie Beethoven-Bártok sehenden Komponisten aufmerksam. Seitdem konnte man Kurtág in vielen wichtigen Konzertsälen Europas, etwa bei den Salzburger Festspielen, auch als Interpret eigener Werke erleben. Diese Aufführungen, vor allem von Stücken aus „Játékok“ erzielen beim Publikum nicht zufällig immer wieder außergewöhnlich intensiven Beifall. Hier wird eine Musikalität erlebbar, die Kurtág in den vorliegenden Ausgaben der „Játékok“ mit großer Liebe zum Detail in eine persönlich geprägte musikalische Zeichensprache gebannt hat: Weit ausschwingende Legatobögen („Sich umschlingende Töne“), zahlreiche Fermaten, die das Spiel zeitweise von metrischen Zwängen befreien („In memoriam György Kosa“), die Verteilung weniger ganzer Noten auf ein System („Eine schüchterne Frage“, ein gerade viertaktiges Stück verlangt nur zehn Anschläge), die häufige Verwendung der Brevis („Kondor-Stein – in Manier des späten Liszt“), aber auch die assoziationsreichen Titel („Das kleine Gewitter“), vorangestellten Zitate (zum Beispiel von Shakespeare), mitzudenkenden Quasi-Gesangstexte („Eine Blume für Gabriella Garzo“) lassen den Notentext als Spuren eines Zaubers lesen, wie er sich nur während einer Aufführung entfaltet, gleichsam als Konzentrat der musikalischen Haltung, wie Kurtág sie als Kammermusiklehrer und Interpret immer wieder an den Tag legt (dabei begreift Kurtág sich ausdrücklich nicht als professioneller Pianist!). Oft genügen ihm zwei klingende Töne, um einen musikalischen Kosmos darzustellen. Nebenbei gelingt Kurtág, ausgehend von den einfachsten Bewegungen der Hand bis hin zu den vertracktesten Fingerkünsten, quasi die Wiedererfindung des Klavierspiels. Und so lassen sich an den 44 Stücken aus den Jahren 1963 bis 1993, die hier versammelt sind, sowohl die Musikalität des neugierigen Klavierschülers wie des professionellen Pianisten aufs Schönste entzünden, als auch die manuellen Fähigkeiten schulen und vervollkommnen. Nachdem in den ersten vier Bänden die Stücke im wesentlichen nach Schwierigkeitsgrad geordnet wurden, befinden sich im fünften Band in freier Folge Stücke verschiedenster pianistischer Anforderungen. Einige setzen eine beträchtliche Virtuosität voraus (zum Beispiel „Hommage tardif á Karskaya“), andere sind auf lediglich einem System notiert, umfassen nur eine einzige Stimme, oder bestehen aus einer einfachen Folge von Akkorden, wobei auch die simpel aussehenden Stücke kraft ihrer musikalischen Substanz hohe interpretatorische Herausforderungen darstellen. Hierzu Kurtág: „Spiel ist Spiel. Es verlangt viel Freiheit und Initiative vom Spieler. Das Geschriebene darf nicht ernst genommen werden – das Geschriebene muß todernst genommen werden, was den musikalischen Vorgang, die Qualität der Tongebung und der Stille anbelangt“. Kurtágs Musik ist durchdrungen von unbedingtem Ausdruckswillen, wobei er von schwebendem Gesang (das gilt auch für die instrumentalen „Játékok“) über die reine Freude am Spiel bis hin zu bohrend-abgründiger Intensität ein weites Spektrum menschlicher Empfindung in Musik zu fassen vermag. Bereits der Untertitel des Bandes: „Tagebucheintragungen, persönliche Botschaften“ weist auf den intimen Charakter der Sammlung hin, bekräftigt durch die zahlreichen Widmungen und In memoriams für Freunde oder andere ihm wichtige Personen. Auch Kurtágs ausgeprägtes musikhistorisches Gedächtnis schlägt sich in vielen der Stücke nieder, bereits in den Titeln gibt es Bezugnahmen auf Beethoven („Les Adieux“), Liszt, Debussy, Veress oder Schnittke. Ein Beispiel für die Tatsache, daß für Kurtág die „Játékok“ oftmals als Keimzellen für größere Werke fungieren, liefert das Stück „Vorklänge zu einer Bálint-Ausstellung“, dessen aufgespreizt-dissonante Vierstimmigkeit sich in extenso im zweiten Stück der „Drei alten Inschriften op. 25“ für Gesang und Klavier wiederfindet. Mit den „Játékok“ Kurtágs ist Klavierlehrern eine hervorragende Möglichkeit an die Hand gegeben, bereits von Anbeginn des Unterrichts Schüler an zeitgenössische Musik heranzuführen, nicht zuletzt, um damit einerseits dem oft so empfundenen Übel des Klavierspiels als mechanischer Pflichtübung zu begegnen, andererseits, um zur Bereicherung des Repertoires beizutragen. Professionelle Musiker sollten sich auch in ihren Konzerten dieser kostbaren Miniaturen annehmen.

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