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Die Wiederkehr des Immergleichen

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Über Musikerziehung und die innere Sicherheit · Statement von Jürgen Vogt
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Erinnern Sie sich eigentlich noch? Im November 2006 überfiel ein 18-Jähriger schwerbewaffnet seine ehemalige Schule in Emsdetten, verletzte 30 Personen und tötete anschließend sich selbst. Das Entsetzen in den Medien war enorm, hielt aber selbstverständlich nicht lange an. Immerhin hatte man die Ursachen schnell gefunden: Der jugendliche Amokläufer war ein sozialer Außenseiter, der sich in die phantastische Welt der so genannten „Killerspiele“ flüchtete, die er dann in die Wirklichkeit umsetzen wollte. In einer Blitzdiagnose wurden sofort diese Computerspiele für die Tat verantwortlich gemacht, und Politiker aller Couleur traten vor die Mikrophone und sprachen sich für deren Verbot aus.

Eher am Rande dieser Diskussionen meldeten sich aber auch nicht wenige zu Wort, die Musikerziehung als Mittel propagieren, solchen Gewaltausbrüchen prophylaktisch zu begegnen. Geradezu epidemisch wird dabei auf das Diktum des ehemaligen Bundesinnenministers Otto Schily verwiesen, nach dem die Schließung von Musikschulen eine Gefährdung der inneren Sicherheit darstelle. Musik an sich, vor allem aber dem eigenen Musikmachen, wird dabei ein ganzes Bündel an positiven Wirkungen zugeschrieben: nicht nur stärkt sie das Immunsystem und die Einschlafbereitschaft; vor allem aber macht sie Menschen sozial verträglicher.

Nun gibt es aber auch die gerade entgegengesetzte Behauptung, nach der das Hören von Musik aus der rechten Szene, aber auch von Heavy Metal, Gothic, Dark Wave und so weiter nicht gewaltverhindernd, sondern geradezu gewaltauslösend sei. Entweder, eine der beiden Thesen ist demnach falsch, oder aber, sie sind in einem differenzierteren Bild zusammenzuführen: In die Schule gehört die Streicherklasse und Mozart, während der Gangsta-Rap zusammen mit den Killer-Spielen auf dem pädagogischen Index landet. Eine dritte Möglichkeit besteht schließlich darin, dass beide Behauptungen in etwa dem entsprechen, was der Philosoph Harry G. Frankfurt vor einiger Zeit als „Bullshit“-Phänomen beschrieben hat: Wer Bullshit von sich gibt, der lügt nicht etwa, denn das würde Absicht voraussetzen. Auch ist es keineswegs so, dass es notwendig falsch ist, was er sagt. Auch kann er es in bester Absicht sagen. Das Ärgerliche am Bullshit ist, dass derjenige, der ihn von sich gibt, ganz offensichtlich gar keinen sonderlichen Wert darauf legt, ob seine Aussage wahr oder falsch ist, ob sie bewiesen werden kann, oder auch nicht; die Hauptsache scheint zu sein, die Kommunikation läuft irgendwie weiter und man signalisiert dadurch seine schiere Präsenz – wer redet, der ist nach Gottfried Benn immerhin noch nicht tot. Die Verärgerung über Bullshit ist also zum Beispiel weniger wissenschaftlicher, als vielmehr moralischer Art: Wie kann man so gedankenlos daherreden?!

Ein ganzes Pandämonium von musikpädagogischem Bullshit findet sich etwa auf der Homepage der Musikschulen in Niedersachsen: Von Christian Wulff bis Karl-Heinz Rummenigge werden hier zahlreiche „Experten“ in Sachen Musikpädagogik zitiert, die den hohen Wert der musikalischen Bildung rühmen, wobei so ziemlich jeder dabei darunter etwas anderes versteht. Kostprobe gefällig? „Musik schafft Stimmungen. Musik verbindet. Musik kann die Mauern in den Köpfen und die aus Stein überwinden“ (Ute Vogt, SPD). Oder, aus Gründen des Proporzes: „Musik ist in hervorragender Weise geeignet, die kognitiven Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen zu fördern und durch eine emotionale Komponente zu ergänzen“ (Peter Hintze, CDU). Ist das falsch? Nun, vielleicht nicht, ist aber eigentlich auch egal, eben Bullshit. Nun mag man diesen Prominenten vielleicht nachsehen, dass ihre öffentliche Präsenz zum großen Teil geradezu durch das gewohnheitsmäßige Äußern von Bullshit über alles und jedes definiert ist. Bedenklicher ist es allerdings, wenn dieses Phänomen auch auf den eigentlich musikpädagogischen Diskurs übergreift, und die Rede von der gewaltverhindernden oder -auslösenden Wirkung von Musik ist nicht weit davon entfernt.

Zunächst: Der historisch belehrte Musikpädagoge nimmt verblüfft zur Kenntnis, wie hier die schon von Platon im „Staat“ vertretene These, dass bestimmte Musiken (bei Platon Tonarten) angeblich wiederum ganz bestimmte Wirkungen auf die Persönlichkeit der Hörer ausüben, fröhliche Urständ feiert – und dies oftmals sogar unter direkter Benennung des Philosophen. Aber schon in der Antike stand diese Behauptung auf wackligen empirischen Füßen, von der mehr als zweifelhaften politischen Ausrichtung des platonischen Erziehungsmodells einmal ganz abgesehen. Offensichtlich wird hier von einem einfachen Reiz-Reaktionsmodell ausgegangen, das doch Psychologie und Pädagogik schon lange hinter sich gelassen haben. Gerade die Diskussion über die gewaltauslösende Wirkung von Musik kann hier als lehrreiches Beispiel dienen: Allem Anschein nach ist weniger die Frage sinnvoll, ob eine bestimmte Musik direkt Gewalt auslöst, sondern welche Rolle Musik und Gewalt in bestimmten Jugendkulturen spielen.

Es ist allem Anschein nach sicherlich so, dass es Jugendkulturen gibt, zu deren Identität Gewalthandeln ebenso gehört, wie das Hören bestimmter Musiken. Dies bedeutet aber keineswegs, dass diese Musiken einfach als ursächlich für das Gewalthandeln angesehen werden können; ein noch so aggressives und gewaltverherrlichendes Musikstück bleibt immer eine popkulturelle Inszenierung und mithin ein (auch) ästhetisches Gebilde – wäre dies anders, so könnte man auch in jedem Baudelaire-Leser einen potentiell nekrophilen Perversen vermuten. Es ist daher sogar denkbar, dass eine Umlenkung der realen Gewalt auf die inszenierte Gewalt der Musik sozialpädagogisch anvisiert werden kann; dies erscheint sogar insgesamt als aussichtsreicher als ein Verbot dieser Musik. Umgekehrt macht daher auch Mozart nicht automatisch sozial verträglicher – hier muss man nicht ausführlich an die musizierenden Nazis erinnern –, sondern es kommt darauf an, welchen Gebrauch Schüler von dieser Musik machen.

Aber all dies ist ja grundsätzlich seit langem bekannt. Nichts spricht dafür, dass es eine „Erziehung durch Musik“ geben könnte, die zudem nach einem simplen Ursache-Wirkungsmodell funktionierte. Und angesichts der Geschichte der Musikpädagogik wäre dies auch nicht einmal wünschenswert, da in solchen Modellen seit Platon stets ein manipulatives Erziehungsdenken zugrunde liegt – mit welch guten Absichten dies auch immer vertreten wird. Manipulativ deshalb, weil immer auf die prä-diskursiven Kräfte der Musik gesetzt wird, die in der Psyche der Kinder und Jugendlichen dort wirken sollen, wo die kritisch-emanzipative Vernunft noch nicht zur Geltung kommt oder auch gar nicht jemals kommen soll. Und auch von einer spezifischen „ästhetischen Rationalität“ ist nirgendwo die Rede, wenn es in erster Linie um stabiles Sozialverhalten gehen soll; eher schon wieder von „Musischer Erziehung“.

In dieses Bild passt auch die ganz naive Rede von der „gemeinschaftsbildenden“ Kraft der Musik beziehungsweise des Musikmachens. So behauptete beispielsweise der Vorsitzende des VdM in der FAZ im November 2006, nach einer Teilhabe an einer intensiven Musikerziehung, vom (natürlich mütterlich gesungenen) Wiegenlied zum Orchester, würden „die Menschen davor scheuen, das Gemeinschaftserlebnis in sein Gegenteil zu verkehren.“ Wer hier eine unvermittelt intendierte Rückkehr der Jugendmusikbewegung und ihrer Theoreme vermutet, der liegt falsch; schließlich handelt es sich in erster Linie um Bullshit. Dennoch ist die Schlichtheit der zugrunde liegenden Vorstellungen vom sozialen Lernen verblüffend. Dieses erweist sich in erster Linie als sozial-integrativ: das gemeinsame Musikmachen soll dazu dienen, die soziale Kohäsion innerhalb der musikmachenden Gruppe zu verstärken. Dass alle soziale Erziehung auch die Interpretation und Reflexion sozialer Regeln umfasst, wozu auch die kognitive Begründung und Aushandlung von Regeln und Rollenerwartungen gehört, wird souverän ausgeblendet. Und dies ist dann wirklich eine „gemeinschaftliche“ Vorstellung des Sozialen, die wieder an die alte, und doch eigentlich aufgearbeitete Dichotomie von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ erinnert.

Man kann sich also nur wundern über das offensichtlich kurze Gedächtnis all derjenigen, die sich in diesem Sinne als Advokaten der Musikerziehung zu Worte melden, und die offenbar bereit sind, einen großen Teil musikpädagogischer Einsichten der letzten Jahrzehnte ohne Umstände über Bord zu werfen. Über die Ursachen kann man nur spekulieren; schlichte Unkenntnis dürfte nur eine davon sein. Möglicherweise handelt es sich hier um ein Symptom für ein tiefer sitzendes Problem, nämlich die Unsicherheit über legitimierbare Ziele des Faches Musik in der allgemein bildenden Schule. So konnte etwa Michael Alt noch 1968 davon sprechen, Musikerziehung in einer demokratischen Gesellschaft hätte im Sinne von Chancengleichheit die Aufgabe, alle Kinder und Jugendliche an die Werke der bürgerlichen Musikkultur heranzuführen. Eine solche einheitliche Zielperspektive, die im Übrigen schon damals Makulatur war, hat die Musikpädagogik schon lange nicht mehr zu bieten. Handlungs- und erfahrungsorientierte Ansätze bieten stattdessen ein weit gefächertes Spektrum von Zielvorstellungen, die allesamt das lernende Subjekt und sein Verhältnis zur Musik in den Mittelpunkt rücken. Es wird gegenwärtig leicht übersehen, dass etwa im Kontext der PISA-Studien ganz ähnlich auch immer von ästhetischen „Modi der Weltbegegnung“ gesprochen wird, die notwendig zur Grundstruktur der Allgemeinbildung und des Fächerkanons gehören. Die Musikpädagogik verfügt über genügend Konzepte, um einen solchen Modus der Weltbegegnung auch unter den Bedingungen von Schule zu realisieren oder zumindest anzubahnen. Es bedarf also gar keiner Rechtfertigung der Ziele des Faches durch kurzschlüssige Wirkungsannahmen.

Dies gilt aber offenbar nur in der Theorie und nicht in der Praxis. Angesichts der unguten bildungspolitischen und -ökonomischen Tendenzen, unter dem Vorwand von PISA die schulische Allgemeinbildung dem Wirtschaftsstandort Deutschland zu opfern, mag es verzeihlich erscheinen, wenn die Musikpädagogik strategisch operiert und lautstark Reklame für die angeblichen „Nebenwirkungen“ des Musikunterrichts an Stelle der eigentlichen Fachziele macht. Gefährlich bleibt diese Taktik aber allemal, und dies nicht nur, weil aktuelle bildungspolitische Vorgaben die Ausformulierung gerade fachspezifischer Bildungsstandards fordern: Irgendwann könnten die fachübergreifenden Ziele die eigentlichen Fachziele soweit überlagern, dass niemand mehr in der Lage wäre, den Unterschied noch zu benennen oder auch nur wahrzunehmen. Und man sollte nicht auf einen neuen Adorno spekulieren, der dann die selbstvergessen musizierenden Musikpädagogen aus ihrem Gemeinschaftsschlummer aufweckt. Was bleibt als Fazit? Der Nachfolger Otto Schilys, Wolfgang Schäuble, hat in aller Bescheidenheit wohl den Nagel weit mehr auf den Kopf getroffen als sein Vorgänger: „Ich habe selbst das Glück gehabt, als Kind im Violinspiel unterrichtet zu werden und viele Jahre musiziert zu haben. Welche Wirkung das für meine Persönlichkeitsentwicklung gehabt hat, will ich vorsichtshalber nicht beurteilen“. Sicherlich wäre es gut für den Amokläufer von Emsdetten gewesen, etwas von diesem Glück erfahren zu können. Vielleicht hätte man aber einfach nur mehr mit ihm reden sollen.

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