Eine CD mit Neuer Musik von 10- bis 14-Jährigen macht Furore: „Haltbar gemacht“, eingespielt vom Ensemble „L’art pour l’art“ rund um Astrid Schmeling und Matthias Kaul, wurde preisgekrönt, in der ZEIT vorgestellt und auf die Bestenliste der Deutschen Schallplattenkritik gehievt. Die Musik der „Jungkomponisten“ hat die Lorbeeren fraglos verdient. Was aber sagt das einhellige Lob über unser Verhältnis zur zeitgenössischen Musik aus?
Auf der Bestenliste der Deutschen Schallplattenkritik fand sich im ersten Quartal dieses Jahres eine CD des Ensembles „L’art pour l’art“. Das ist – zumal in der Kategorie „Zeitgenössische Musik“ – wenig überraschend. Seit bald 30 Jahren verfechten die Musiker rund um die Flötistin Astrid Schmeling und den Schlagzeuger Matthias Kaul die Sache der Neuen Musik. Der Katalog der dabei entstandenen CDs listet Altmeister wie Mauricio Kagel, Isang Yun und Vinko Globokar. Die Begründung der Jury könnte zu jeder dieser CDs passen: „Da ist Kreativität pur zu erleben, und das so eng verknüpft mit der Wirklichkeit, dass Kenner und Liebhaber ihre Freude daran haben.“
Vielleicht mochten die Experten die Komposition „Luftlöcher“ mit ihrer richtungslosen Tonalität, sanft und soghaft wie vieles von Takemitsu; oder „Sekt und Kakao“, eine gestische Musik, bei der das Ensemble blitzschnell zwischen homophonem Powerplay und ruhigen Flächen vermitteln muss, Energieschocks gewissermaßen, wie sie sich bei Ustwolskaja finden; oder das wunderbare „i et i“, bei dem sich über einen rastlosen Grund aus akustischem und elektrischem Bass zarte Gesänge von Violine, Klarinette und Klavier wölben – Jörg Widmann hätte das nicht viel anders gemacht. Volker Hagedorn zeigte sich in der ZEIT von den Komponisten auf dieser CD überzeugt: „Was an ihren Stücken auf Anhieb packt, ist die Freiheit und Genauigkeit, in der Klänge gefunden und kombiniert wurden, das wunderbare Timing der maximal zehn Minuten langen Stücke, die Räume, die sie jenseits ihrer ‚Programme‘ öffnen, bis zu leuchtender Abstraktion.“
Dem einhelligen Lob zur Seite steht das bemerkenswerte Juroren-Wort, etliche Ergebnisse der CD ließen sich „staunenswerterweise sogar auf eine Stufe stellen mit professionellem Komponieren“. Das klingt gönnerhaft, ist aber freundlich gemeint. Und trifft den Punkt. Denn die Musik der CD „Haltbar gemacht“ wurde von Teenagern zwischen zehn und vierzehn Jahren ersonnen. Die Acht, die in der beiliegenden Film-Dokumentation als „Jungkomponisten“ tituliert werden, haben in den Kompositionskursen von Schmeling und Kaul in deren Winsener Haus vor den Toren Hamburgs gelernt, einige sind seit Jahren dabei, haben verstanden, wie man die Ohren aufsperrt und sich öffnet für die Klänge unserer Welt, wie man Töne ordnet und zu dem fügt, was sich die Fantasie ausmalt, und wie man Musiker dazu bringt, den Klang zu spielen, an den man just gedacht hat. Nachdem „L’art pour l’art“ 2009 den Förderpreis Musikvermittlung des Musiklandes Niedersachsen und der Niedersächsischen Sparkassenstiftung erhalten hatte, konnte man die kompositorischen Ergebnisse der Workshops endlich „haltbar machen“, das heißt im Sendesaal des Hessischen Rundfunks aufnehmen.
Kinder werden abgespeist
Wundert sich jemand? Kinder komponieren, namhafte Musiker interpretieren, Kritiker loben und die Musikvermittler haben es ohnehin gewusst: Wer mit Kindern ernsthaft ästhetisch arbeitet, erzielt Ergebnisse, die denen von Erwachsenen in nichts nachstehen. Denn Kreativität fragt nicht nach Weltanschauung und Lebenserfahrung, sondern nach offenen Sinnen, Kombinationsvermögen und Vorstellungskraft. Schon die ersten „Response“-Projekte von Richard McNicol Mitte der 80er-Jahre in London fußen auf dem Vertrauen in die Kreativität der Jüngsten – ein Vertrauen, das die klangliche Kreativität ebenso verdient hat wie die literarische oder die bildnerische. Heute kann ein 15-jähriger Christopher Paolini das Fantasy-Epos „Eragon“ entwerfen, das ein paar Jahre später auf Platz 2 der Bestsellerliste der New York Times landet und bald darauf Unsummen an den Kinokassen einspielt. Und heute können die Bilder einer Fünfjährigen sechsstellige Summen einspielen, wie der Fall der kleinen Aelita Andre zeigt. „Ich finde es einfach herzlos“, wird der Vater des Mädchens, Michael Andre, im Süddeutsche Zeitung Magazin zitiert, „dass die meisten Kinder damit abgespeist werden, dass man ihnen ein paar Blätter Papier und Farbstifte in die Hand drückt. Stellen Sie sich vor, wir hätten noch das Zeug, das Picasso in seiner Kindheit gemalt hat. Das würde doch heute ganz sicher im MoMA hängen. Warum traut man Kindern nicht zu, Kunst schaffen zu können? Für mich besteht die Leistung Aelitas darin, dass sie für die Kunst von Kindern eine Position im öffentlichen kommerziellen Raum erobert hat, wo sie hingehört.“
Die preisgekrönte Winsener CD „Haltbar gemacht“ wirft nicht mehr die Frage auf, ob Kinder Kunst schaffen können, die man jenen der Profis an die Seite stellen kann. Jedenfalls wird die Frage in der bisherigen Resonanz auf die CD wie selbstverständlich ausgeklammert. Was bedeutet dies aber für unser ästhetisches Wertesystem, wenn wir die Kunst von Kindern und Jugendlichen auf eine Ebene mit jener auf traditionelle Weise ausgebildeter Komponisten stellen? Komponisten durchlaufen in der Regel eine langjährige Schulung in hochspezialisiertem Unterricht, der noch heute von Schüler-Meister-Verhältnissen lebt, die andernorts nahezu ausgerottet wurden. Dass sich einer als „Furrer-Schüler“ bezeichnen darf, gilt geradezu als Gütesiegel. Wenn jemand gar auf den professionellen Vorgang des Notenschreibens verzichtet, droht eine Wiederholung des Falles Scelsi, bei dem zum Dilettanten abgestempelt wird, wer die Klangfantasie höher schätzt als das Handwerk. Dennoch zeigt die Szene ein reges Interesse an den impulsiven Werken etwa des Autodidakten Helmut Oehring. Kompositionen von Kindern sind geeignet, den Handwerksstolz der Zunft noch weiter ins Abseits zu drängen.
Damit steht auch die musikalische Professionalität auf dem Prüfstein. Die Ausbildung vermittelt ja neben handwerklichen Fähigkeiten wie Notationstechniken auch die Historie der instrumentalen Klangerzeugung, an der sich Komposition jenseits aller strukturellen Entwicklungen immer entzündet hat. Die von Cage vorgeschlagene Einbeziehung des akustischen Alltages ist hingegen ein Seitenpfad, der gerade Kindern und Jugendlichen verlockend erscheint. Gesellt sich deren Offenohrigkeit dazu, können sie den Erwachsenen sogar überlegen sein.
Unscharfe Trennlinien
Was also ist Professionalität und was ist sie wert? Die Musikgeschichte hat sich – nicht nur bei Ives und Borodin – damit abgefunden, dass auch am Feierabend Wertvolles komponiert werden kann, demnach zieht die übliche Definition von Professionellem im Sinne von Hauptberuf nicht. Bleibt am Ende nur mehr die Fähigkeit, Kreativität zu organisieren, in Strukturen zu übersetzen und in Formen zu gießen? Auch das bedarf der Übung und Erfahrung, und man kann sich gut vorstellen, wie der Dialog mit den Musikern des Ensembles „L’art pour l’art“ den jungen Kreativen dazu verhalf, aus Ideen ein Stück zu formen. Deswegen die CD-Tracks zu Werken des Gespanns Kaul/Schmeling zu erklären, ist unstatthaft. Auch die Eltern Aelita Andres versichern wortreich, dass sie ihrer Tochter die Rahmenbedingungen erleichtern, nicht aber selbst Hand anlegen. Wie viele Komponisten von Oboenkonzerten sahen sich zum Schreiben eines solchen erst in der Lage, nachdem ihnen Heinz Holliger gezeigt hat, was überhaupt man mit diesem Instrument alles machen kann? Hilfe, Anregung und Inspiration sind in der Kunst so alltäglich, dass man den Glauben an den einsam schaffenden Geist getrost ins Museum des 19. Jahrhunderts verbannen darf.
Wenn aber weder Ausbildung und jahrelange Übung, noch das Handwerk der Notation, noch Formsinn und Gestaltungskunst die Trennlinie markieren, anhand derer ein Stück Musik Donaueschingen oder Detmold, dem Fachfestival oder der Ausbildungsstätte für Musikvermittler zugeschlagen wird, woran orientiert sich dann unser Kategoriensystem, an dem wir den Wert von Musik bestimmen? Der Erfolg von „Haltbar gemacht“ kann die Frage insofern beantworten, weil es vor allem die auch von den Kindern sehr sorgfältig gestalteten klanglichen Aggregatzustände sind, die die Qualität dieser Musik begründen. In dem Maße, in dem Linie, Rhythmik (nicht Motorik, sondern wirklich Rhythmik!) und Polyphonie an Einfluss verloren haben in der zeitgenössischen Musik und damit eben jene Disziplinen, die sich ohne Erfahrung und Ausbildung tatsächlich nur schwer beherrschen lassen, sollten auch aufgeweckte Kinder die ästhetischen Ergebnisse produzieren können, die uns lieb und teuer sind.