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Das JACK Quartet gefällt sich in der Popstar-Pose. Foto: Justin Bernhaut
Das JACK Quartet gefällt sich in der Popstar-Pose. Foto: Justin Bernhaut
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Donaueschinger Musiktage befragen das Streichquartett

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Armin Köhler im Gespräch mit den Musikern von Arditti Quartet, JACK Quartet und Quator Diotima
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Die Donaueschinger Musiktage stehen 2010 (15. bis 17. Oktober) im Zeichen des Streichquartetts. Unter dem Titel QUARDITTIADE hat Festivalchef Armin Köhler eigens eine spezielle Aufführungssituation für den gesamten zweiten Festivaltag entworfen, bei der drei Streichquartettformationen neue Streichquartette von acht Komponisten aus sieben Nationen vorstellen.

Mit dem Arditti Quartet aus London, dem Quatuor Diotima aus Paris und dem JACK Quartet aus New York wurden drei Streichquartette gewonnen, die drei Generationen und drei unterschiedliche Interpretationskulturen repräsentieren. Im Juli 2010 führte Armin Köhler mit den drei Quartetten Gespräche, die die nmz in Auszügen abdruckt. Für das Arditti Quartet antwortete Irvine Arditti, die beiden anderen Ensembles beantworteten die Fragen im Kollektiv. Das  Quatuor Diotima antwortete in schriftlicher Form, die Antworten der beiden anderen Quartette beruhen auf der Transkription von Radiointerviews.

Armin Köhler: Das Streichquartett wird über das Musikalische hinaus auch als eine Lebensform verstanden. Am Beispiel des LaSalle Quartets und des Amadeus Quartets lässt sich das in jüngster Vergangenheit sehr gut ablesen. Walter Levin formulierte einmal: „Es wird nie darüber geredet, wie man in einer Vierergruppe auskommt und dass eine Vierergruppe eigentlich einen Mikrokosmos unserer Gesellschaft darstellt.“ Und Gidon Kremer sprach davon, dass es in der Kulturgeschichte kaum ein überzeugenderes Beispiel des Miteinander-Lebens gäbe. Das Streichquartett als Lebensform, ist das nicht etwas pathetisch, oder können Sie diesem Gedanken etwas abgewinnen?

Irvine Arditti: Ich glaube, es ist übertrieben, ein Streichquartett als einen Mikrokosmos unserer Gesellschaft zu beschreiben. Es geht nicht nur um das Leben selbst, sondern auch um die tagtäglichen Dinge des Lebens. Das Streichquartett selbst ist doch schon eine Art Mikrokosmos: Man muss sich mit den drei anderen Leuten gut verstehen. Die Fähigkeit, in einer Streichquartett-Formation spielen zu können, ist die gleiche, die man in der Gesellschaft benötigt. Dort erwartet man, dass die Leute so miteinander umgehen, wie mit sich selbst.

Diotima: Es gibt in Frankreich ein Streichquartett, das sich auf Unternehmensberatung spezialisiert hat. Es erklärt seinen Gesprächspartnern, wie man das Leben zu viert in allen seinen verschiedenen Aspekten organisieren und vor allem, wie man die Probleme lösen kann, die sich unweigerlich bei einem Leben fast ohne Kontakt zur Außenwelt ergeben. Damit hat es großen Erfolg! Ja, natürlich, das Quartett ist ein Mikrokosmos des gesellschaftlichen Lebens, dessen unterschiedliche Merkmale sich alle darin finden: vom Gleichen, das dasselbe ist und dabei zugleich ein Anderes (schlagendes Beispiel: die beiden Geigen), über das Schlechteste (alle Formen von kulturellen Vorurteilen, Verbündung gegen einen gemeinsamen Feind), bis zum Besten (Selbstlosigkeit, Menschlichkeit, das Glück, etwas miteinander zu teilen, gemeinsame Ideale, Demut). Und wie in jeder Gesellschaft wird erwartet, dass wir mit einer Stimme sprechen, aber zugleich immer die anderen respektieren. In der Realität sieht es oft anders aus! Das ist eine wichtige Lehre für das Leben.

JACK: Es gibt in Amerika ein Streichquartett namens Portland String Quartet. Es hat seinen Sitz in Portland, Maine. Alle vier Mitglieder spielen seit vierzig Jahren zusammen! Ich kann aus dem Stegreif kein anderes Quartett auf der Welt nennen, das so lange zusammen war. Inzwischen reist
das Portland Quartet durch die ganze Welt und veranstaltet Seminare für Unternehmen. Das Hauptthema eines solchen Seminars ist, wie eine so kleine Gruppe – es geht hier um die Gesellschaft – funktionieren kann. Wir stimmen Ihnen zu, wenn Sie sagen, ein Streichquartett sei ein Mikrokosmos unserer Gesellschaft. In der Regel besteht ein Streichquartett aus vier ziemlich hellen Köpfen. Jeder hat also etwas zu sagen, und trotzdem müssen die vier Personen einander ausstehen können. Nach allen Diskussionen müssen wir als ein einziger Kopf auftreten. Man muss geben und nehmen, und es ist auch wichtig, dass man nie etwas persönlich nimmt. Wir sind vier ziemlich coole amerikanische Typen. Wir kommen aus gut situierten bürgerlichen Familien. In diesem Sinne bilden wir schon einen Mikrokosmos des großen Landes Amerika, wenn auch nur ein kleines Scheibchen des Ganzen. Wir lernen allmählich, demütig zu sein. Demut ist etwas sehr Wichtiges. Wir haben durch unser Wirken im Streichquartett etwas über unseren Charakter gelernt und darüber, wie viel Geduld man aufbringen muss.

Köhler: Wie finden Sie als Ensemble die Balance zwischen emotionaler Nähe und kollegialer Distanz, die beim Streichquartettspiel aus meiner Sicht ganz wichtig ist?

Diotima: Diese beiden Punkte sind in der Tat eng miteinander verwoben. Wir versuchen immer, den folgenden Kurs einzuhalten, um ein Gleichgewicht zu finden: Unsere Kompetenzen dienen dem Werk, das wir spielen und für das wir uns einsetzen, und es ist wichtig, bei unserer Arbeit diese Objektivität zu bewahren. Das gibt uns die nötige Energie, um uns nicht in eventuellen Konflikten, Empfindlichkeiten und Gefühlen zu verlieren, die andererseits doch nötig sind, wenn man zu viert überlegt und Lösungen sucht.
Eine Frage hören wir immer wieder von Menschen, die uns begegnen: „Ihr müsst ja wohl Freunde sein!“ Im Grunde eigentlich nicht! Ich glaube, was die Musiker eines Quartetts am besten definiert, ist ihr typisch „familiäres“ Verhältnis zueinander. Sie können ihren Bruder nicht mehr ausstehen, aber er ist im Zimmer neben ihrem, und daran können sie nichts ändern! Und vor allem: Sie können ihn nicht ausstehen, aber er ist ihr Bruder, also lieben sie ihn! Ich glaube, es ist unmöglich, keine emotionale Bindung zu haben. Aber eine Art von Distanz zu suchen, ist normalerweise sehr heilsam! Auch die einigermaßen magische Zahl vier hilft uns dabei, Lösungen zu finden: Da gibt es  1+3 und 2+2, wobei die 1 immer anders besetzt ist, und die Paare sind niemals dieselben!

Arditti: Ich glaube, es hat weder mit den Spielern per se zu tun, noch mit den Kollegen, sondern damit, dass wir in der glücklichen Lage sind, unser Leben viel besser organisieren zu können. Wenn wir – die vier Mitglieder unseres Quartetts – zusammentreffen, haben wir enorm viel Arbeit und müssen sehr lange und intensiv proben. Das bedeutet, dass wir uns einen Großteil des Jahres mit diesen Tätigkeiten beschäftigen müssen. Insofern hat sich gar nichts geändert. Wichtig sind drei Dinge: Das Leben, die Musik und Freude an beidem. Es ist eine klare Sache: Es gibt nur ein einziges Ensemble.

JACK: Wir möchten Ihnen etwas zu unserem Lieblings-Hassthema sagen. Im Moment ist das Hauptthema bei uns passive Aggression. Manchmal kommt es in einer Probe vor, dass einer von uns einen Kommentar abgibt, der nur auf der Oberfläche positiv wirkt, der aber eine klammheimliche Aggression verbirgt. Zum Beispiel: „Willst Du es wirklich in diesem Tempo spielen?“ Es wäre viel ehrlicher gewesen, wenn derjenige gesagt hätte: „Eigentlich kann ich für dieses Tempo keine große Begeisterung aufbringen. Können wir es langsamer versuchen?“ Es ist immer besser, wenn man preisgibt, wie man sich fühlt, anstatt den anderen niederzumachen. Man muss schließlich sagen, was man selbst will. Das hat nicht nur mit dem Quartett zu tun, sondern mit vielen Dingen unseres Lebens. Überall, wo wir uns gerade befinden, denken wir über solche Dinge nach. Für uns ist es unglaublich schwierig, diese Form des Miteinanders zu akzeptieren. In einer Arbeitsumgebung darf man nie in die Defensive gehen. Diese Trotzreaktion ist das Schlimmste, was man überhaupt machen kann. Und beim Musizieren generell hat sie nichts zu suchen. Es gibt meines Erachtens gar keine Notwendigkeit, in die Defensive zu gehen. Ich glaube nicht, dass wir die anderen Musikerkollegen absichtlich verletzen wollen. Die ganze Situation ist aber immer äußerst delikat. Es gibt vier Personen und jede hat ein großes Ego. (…)

Köhler: Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden alle Quartette von einem Primarius angeführt. Er (Sie) war oft ein(e) bekannte(r) Solist(in). Heute verweigern sich die Quartette diesem Terminus. Sie möchten, dass er (sie) nur erste(r) Geiger(in) genannt wird. Wie denken Sie über den Primarius?

Diotima: In unserem Quartett wechseln die beiden Geiger sich in der Position der ersten und zweiten Geige ab. Dieses Vorgehen hat auch mit den zeitgenössischen Partituren zu tun, die nicht mehr nach dem Haydnschen Modell geschrieben sind. Die schwierigen Partien sind nicht mehr für die erste Geige reserviert. Heute braucht man zwei Geiger, die alle Arten von Schwierigkeiten meistern können. Es gibt viele denkbare Varianten in einem Streichquartett (die berühmte Beschreibung als ein Instrument mit 16 Saiten oder, aus dem Blickwinkel der Philosophen des 18. Jahrhunderts, die Konversation zu viert oder der romantische Held), aber als Ideal muss immer gelten, so demokratisch wie möglich zu bleiben.

Arditti: Als Primarius habe ich die Aufgabe, das Quartett zusammenzuhalten. Ich spiele eine übergeordnete Rolle, darf aber das ganze Geschehen nicht zu sehr dominieren. Der Erfolg eines großen Streichquartetts wird dadurch gesichert, dass man die Fähigkeit besitzt, aus den Kollegen etwas herauszukitzeln. Meiner Meinung nach kann das nur erreicht werden, wenn man keine überzogene Machtrolle ausübt. Es ist wie im echten Leben: Man muss lernen, mit drei anderen Kollegen auszukommen. Die traditionelle Rolle des Primarius in der klassischen Musik ist die, dass man die Solomelodien zu spielen hat. Früher hatte fast nur der Primarius die schwierigen Stellen. Heute schreiben Komponisten für alle vier Streicher sehr anspruchsvolle Musik. Meine spezifische Rolle ist die eines Entsandten. Es gibt einen fast religiösen Aspekt der Primarius-Rolle, obwohl ich kein religiöser Mensch bin. Ich glaube aber schon an Schicksal. Ich glaube, ich wurde auf die Erde geschickt, um das Arditti Quartet zu gründen. Als Primarius bin ich mehr der Philosoph. Ich werfe einen Blick in jede Partitur und erwarte von meinen Kollegen, dass auch sie sich in Sachen Repertoire Gedanken machen. Sie müssen sich auch an unserer regen Diskussion beteiligen. Gemeinsam bringen wir unser Quartett langsam voran und finden den richtigen Weg.

JACK: Wir sind ganz und gar demokratisch organisiert. Es gibt bei uns keinen Primarius. Den beiden Geigern macht es Spaß, beide Stimmen zu spielen – besonders dann, wenn es um zeitgenössische Musik geht. In der Neuen Musik gibt es schließlich keinen großen Unterschied zwischen der ersten und zweiten Stimme, zumindest was den Schwierigkeitsgrad anbelangt. Wir glauben, dass die Mentalität eines ersten Geigers die eines musikalischen Führers ist. Diese Idee kommt uns aber sehr altmodisch vor. Wenn wir die renommierten Streichquartette betrachten, die am Anfang des 20. Jahrhunderts unterwegs waren, merkt man, dass die Beziehungen innerhalb des Ensembles ganz anders waren, als die, die wir heute pflegen. Es gibt da eine tolle Geschichte: Sie hat mit dem Ysaÿe Quartet und dessen Primarius zu tun. Bei der Uraufführung des Streichquartetts von Claude Debussy soll Eugène Ysaÿe an einer Stelle plötzlich aufgestanden sein, um im Stehen zu spielen. Danach hat er sich wieder gesetzt und weitergespielt. Heutzutage betrachten wir diese Solostelle gar nicht mehr als Solo, weder als Kadenz noch als concertato.

Videos live aus Donaueschingen 2010 unter www.nmz.de

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