„Der seit über 40 Jahren in Deutschland lebende Mauricio Kagel ist ein multimedialer Künstler, der neben der musikalischen Komposition Film, Inszenierung, Theater und Musik-Denken in seinem Werk auf sehr persönliche Weise weiterentwickelt. Kagels Œuvre kreist um die Vergangenheit, die als Erinnerung in poetischen Fragmenten und seit längerem auch in spielerisch ernst gemeinten Stilfigurationen als beunruhigender Faktor in die Gegenwart einbricht. Der Komponist besitzt dabei keinerlei Scheu, mit allen nur möglichen Klängen und Geräuschen – auch aus der Alltagswelt – zu arbeiten.“
Mit diesen Worten begründet die Jury der Ernst-von-Siemens Stiftung die diesjährige Preisvergabe in Höhe von 250.000 Mark an die Komponistenpersönlichkeit, die vielleicht am entschiedensten in Europa den Apparat des Musikbetriebs hinterfragte und unterminierte. Das ungewollt Komische dieses Getriebes selbst, von der genialisch empfangenen Komposition bis hin zu ihrer gewichtigen Aufführung und den so bedeutend darüber gehobenen kritisch-theoretischen Debatten, wurde für Kagel zum Gegenstand. Künstlerische Betätigung ist ihm Spiegelung. Kagel greift hinein in die Mottenkiste unseres Daseins, vor allem des musikalischen, und bringt die Gegenstände auf eine zweite Bühne. Dort stehen sie sich auf einmal selbst im Wege, sie verkanten sich und werfen merkwürdige Vexierbilder aus. Kein Wunder, dass sein Tun immer wieder Empörung hervorrief.
Kunst verlässt ihren Platz
Diese kam aus den Ecken des Wohlanstands, der sich heute immer wieder sein schlechtes Gewissen selbst auszureden sucht. Wohlanstand jeglicher Couleur übrigens. Anhand von dem Stück „Exotica“ für außereuropäische Instrumente wurde ihm von linker Seite ebenso widersinnig Kulturimperialismus vorgeworfen, wie bei den selbst ernannten Kulturhütern der darmleerende Elefant zu Beethovens Freudenode im Film „Ludwig van“ für gehörigen Eklat sorgte. Man konnte sich dabei nicht des Gefühls erwehren, dass sich die wie Wachhunde anschlagenden Wertehüter selbst auf den Fuß getreten fühlten. Denn beide Male lagen sie falsch. Sie sahen, was Sache ist – und so deutlich wollten sie es nicht von der Kunst gezeigt bekommen. Denn Kunst, ginge es nach ihnen, darf zwar alles, nur nicht die Regionen der Kunst verlassen. Gerade an diesen Grenzen kratzen aber die schöpferischen Eingriffe Kagels.
Von innen nach außen
Eines der Hauptmittel ist für Kagel dabei die Umdrehung. Fast in jedem seiner Stücke begegnen wir ihr. Mit geradezu hämischer Obsession wendet Kagel dieses Verfahren an. Die ach so selbstverständlichen Mechanismen des „gewöhnlichen Lebens“, die Konventionen der Verständigung im künstlerischen wie alltäglichen Umgang untereinander, die Rituale der gesellschaftlichen Verhaltensmuster werden von ihm von innen nach außen gewendet – und plötzlich liegt der ganze in ihnen eingepackte Widersinn zu Tage. Im kammermusikalischen Theaterstück „Sur Scène“ von 1959 war dieses Prinzip vielleicht zum ersten Mal deutlich auszumachen. Der wissenschaftliche Sprachhabitus eines um Gelehrtheit ringenden Vortrags kehrt sich, indem er einfach auf eine zweite Bühne gebracht wird, gegen sich selbst. Dazu musste Kagel nicht gewaltsam die Diktion verzerren, er konnte nehmen, was ihm die musikwissenschaftlichen Symposien gewissermaßen auf dem Tablett anboten. Im künstlerischen Gewande aber nimmt Kagel dem Text die Konvention des Ernstes, die ihm im wissenschaftlichen Vortragsraum entgegengebracht wird. Das Ergebnis ist entlarvend und schlägt unmittelbar zurück aufs gesellschaftliche Leben. Wer „Sur Scène“ gehört hatte, konnte danach kaum mehr die Gewichtigkeit wissenschaftlicher Auseinandersetzung für bare Münze nehmen: Er hörte unwillkürlich die Momente der Täuschung mit.
Das Fremde wird Gewohntes
Kagels Kunst ent-täuscht; in dieser Tat sieht sie ihre wichtigste Funktion. Denn alles, was uns umgibt, so Kagels prinzipielle Einsicht spätestens seit „Sur Scène“, ist Täuschung. Die Würde der großen Musik ebenso wie das Vergnügen eines Variétés, die Worthülsen eines Diktators ebenso wie die verklärend beschönigten Schilderungen der Entdeckung Amerikas. All dies bringt Kagel gewissermaßen „so wie es ist“ auf die Bühne und plötzlich enthüllt sich eine zweite Wahrheit. Über das „so wie es ist“ lagert sich der Einblick in ein „so wie es wirklich ist“.
Im Stück „Mare nostrum“ etwa wird die „Entdeckung, Befriedung und Konversion des Mittelmeerraumes durch einen Stamm aus Amazonien“, so lautet der Untertitel, geschildert. Kagel macht hier nichts anderes, als einfach die Situation der Entdeckung Amerikas umzukehren. Alle Reaktionsmechanismen, etwa das Befremden über eigenartige Gebräuche, über die Verwendung seltsamer Musikinstrumente et cetera bleiben erhalten, nur so, dass das scheinbar Normale zum Außergewöhnlichen, das Fremde aber zum Gewohnten wird. Nicht die Gegenstände werden bei Kagel also verändert, sondern der Blickwinkel, unter dem sie betrachtet werden.
Am konsequentesten geschah dies vielleicht in Kagels szenischer Komposition, im Musiktheaterstück „Staatstheater“. Kagel befand sich damals, Anfang der 70er-Jahre, in einer glücklichen Auftrags-Situation. Er durfte machen, was er wollte, einziges Gebot war, den vorhandenen Apparat eines Opernhauses zu bedienen. Und genau dies war Kagels Intention. Das Großartige an „Staatstheater“ ist, dass es die Requisiten des Betriebs ihrer Funktion der theatralen Vor-Täuschung beraubt und sie wieder in den Urzustand von Requisiten versetzt. Als die Gegenstände, die sie wirklich sind, tanzen sie ihren Tanz auf der Bühne, die ihnen sonst zum Boden der Verstellung wird. Kunst ist für Kagel ein Renaturierungsprozess.
Vom Selbst der Dinge
Und auch dies wieder ist Brechung. Denn Kunst ist im common sense Entgegensetzung zur Natur oder zur Wirklichkeit. Im schönen Schein hebt sie den Betrachter auf eine andere Ebene, von der er dann wiederum den Blick zurück auf die Realität werfen mag. Kagel aber bricht den Begriff des schönen Scheins übers Knie. Nicht, indem er, wie anderswo versucht wurde, das Hässliche oder das Sinnwidrige auf die Bühne holt, sondern indem er das Scheinhafte des künstlerischen Gegenstands selbst unterminiert. Da alle Dinge im gewöhnlichen Leben Theater spielen und ihrer Identität beraubt sind, werden sie von ihm gerettet, indem er ihnen auf der Bühne ihr Selbst zurückgibt.
Das mag vergleichbar sein mit Bemühungen, Tiere im Zoo vor ihrem sicheren Aussterben zu retten. Und mit vergleichbarer forschender Sammelintensität grast Kagel alle Regionen unseres Seins ab, spürt den Widersprüchen nach, denen sie unterworfen sind, und rettet sie dann in die Region seiner künstlerischen Arbeiten. Intention ist, dass der Betrachter dann der Sinnwidrigkeiten gewahr wird, denen die Dinge, aber auch er als Betrachter unterworfen sind.
Die Verdrehung selbst aber, das gehört mit zum Kalkül, entfacht Lust und rettet somit das sinnliche Vergnügen, das einem Kunstgegenstand unabdingbar ist. Und Hoffnung wohl ist es, dass ein Bewusstsein, das einmal den gordischen Knoten des alltäglichen Unsinns durchschlagen hat, dann die Dinge wieder ins freie Leben entlassen kann. So wie sie sind.