1890 wurde Richard Strauss Kapellmeister in der „Zukunftsstadt“ Weimar, dem einstigen Wirkungsort seines neuen Vorbilds Franz Liszt. Der „junge musikalische Fortschrittler (äußerste Linke)“, wie er sich selbst sah, erklärte damals bei einem großen Diner: „Ich bin sehr gerne bereit, die Sozialdemokratie, wenn dieselben die nötige Million für Bayreuth schaffen, als die Träger der wahren Kultur zu bezeichnen.“
Mit diesem Bekenntnis zu der damals noch als „gemeingefährlich“ geltenden Arbeiterpartei erregte der junge Stürmer und Dränger Aufsehen. Max Bruch beschimpfte ihn als „Kunstverderber“ und „Führer der musikalischen Sozialdemokratie“. Entsprachen die Sympathieerklärungen für das Proletariat aber wirklich der Überzeugung von Strauss? Sein provozierender Ausspruch diente wie die sozialkritischen Texte seiner Dehmel-Vertonungen „Der Arbeitsmann“ und „Befreit“ doch wohl eher der Image-Pflege: dem Bedürfnis, als wagemutiger moderner Komponist zu gelten. Strauss’ politisches Bewusstsein war weniger durch Marx oder Bebel geprägt als vielmehr durch den radikalen Egoismus Max Stirners in dessen Buch „Der Einzige und sein Eigentum“.
Von Liszt hatte Strauss allerdings auch gelernt, dass sich Komponisten nicht nur um ihre eigene Karriere, sondern auch um das Wohlergehen ihrer Kollegen kümmern sollten. Liszt hatte 1835 in Paris in einer Artikelserie „Über die Stellung der Künstler“ eine Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung der Musiker gefordert. Diesem Zweck diente auch der von ihm 1861 in Weimar gegründete Allgemeine Deutsche Musikverein, der seitdem regelmäßige „Tonkünstlerversammlungen“ durchführte. Richard Strauss fühlte sich dieser Tradition verpflichtet.
Eine Chance für soziale Verbesserungen sah er im musikalischen Urheberrecht. Da er überzeugt war, dass das Aufführungsrecht dem Schöpfer der Werke zustand und nicht dem Verleger, gründete er 1898 mit Hilfe von Hans Sommer und Friedrich Rösch die Genossenschaft Deutscher Komponisten. Auch auf deren Initiative verabschiedete der Reichstag am 19. Juli 1901 ein neues Urheberrecht. Als Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Musikvereins forderte Strauss die Komponisten auf, selbstbewusster gegenüber den Verlegern aufzutreten, die er in seiner Tondichtung „Ein Heldenleben“ neben den Kritikern als „Widersacher“ charakterisierte. Tatsächlich rief die Genossenschaft Deutscher Tonsetzer, die 1903 aus der Komponisten-Genossenschaft hervorging, sogleich eine eigene Anstalt für musikalisches Aufführungsrecht ins Leben, deren Vorstand ausschließlich aus Komponisten der E-Musik bestand. Sie vor allem profitierten von den neuen Regelungen.
Der Beginn des Ersten Weltkriegs versetzte auch Strauss zunächst in Siegeseuphorie. Aber schon 1915 bemitleidete er die Soldaten als „arme Kerle“, die „erst von Läusen und Wanzen gereinigt und von allen Infektionen geheilt und erst wieder des Mordens entwöhnt werden müssen“. Und in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal seufzte er: „Sollen wir nie mehr den Louvre, nie mehr die National Gallery sehen?“ Trotz der Feldzüge gegen Frankreich setzte Strauss seinen Briefwechsel mit Romain Rolland fort. Während die Katastrophe des Weltkriegs viele andere Komponisten zu einer künstlerischen Neuorientierung bewog, pflegte er, als wäre nichts geschehen, weiter sein klassizistisches, an Mozart orientiertes Schönheitsideal. Wahre Kunst war für Strauss unabhängig von Politik und Geschichte.
Obwohl sich der junge Komponist am Beginn seiner Laufbahn als einen „Linken“ hatte sehen wollen, waren ihm der eigene soziale Aufstieg und materielle Sicherheit wichtiger als das Schicksal der Arbeiter. Die Schriften von Nietzsche und Stirner stärkten das Selbstbewusstsein des aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Komponisten und festigten seinen Glauben, dass er zu Höherem berufen sei. Zielsicher kletterte Strauss die soziale Stufenleiter hoch, indem er sich um wohldotierte Kapellmeisterposten in München und Berlin bewarb und eine Generalstochter heiratete.
Die Urheberrechte, die er zusammen mit seinen Komponistenkollegen erkämpft hatte, nützten nicht zuletzt ihm selbst. Selbstbewusst forderte Strauss immer lukrativere Verlagsverträge: 800 Reichsmark für „Don Juan“, 1.600 für „Tod und Verklärung“, 5.000 für „Also sprach Zarathustra“ und nicht weniger als 60.000 für seine „Salome“-Oper, womit er sich eine stattliche Villa in Garmisch finanzieren konnte. Während in München sein Jahresgehalt als Kapellmeister 7.000 Mark betragen hatte, erhielt er wenig später als Preußischer Hofkapellmeister 20.000 Mark, damals das höchste Operngehalt überhaupt. Während der Inflation verlangte Strauss zum Erstaunen und Unverständnis seiner Mitwelt eine Abendgage von 1.000 Dollar und überstieg damit weit die vom Deutschen Bühnenverein festgesetzte Höchstgrenze.
Als Strauss 1901 erstmals an einer Reichstagssitzung teilnahm, war er entsetzt. „Was in diesem Reichstag für Böotier und Kaffern sitzen, davon macht Ihr Euch keinen Begriff! Dazu die falschen Lumpenhunde, die gemeinen Erzjesuiten des Zentrums, der Chor der Rache: die Freisinnigen und Liberalen, die Sozi“, berichtete er an seine Eltern. 1912 polemisierte er öffentlich gegen das „blöde Allgemeine Wahlrecht“, das jedem Menschen gleiches Stimmrecht gibt. Vielmehr solle eine bedeutende Persönlichkeit hunderttausend Stimmen erhalten, während „ungefähr zehntausend Hausknechte zusammen eine Stimme bedeuten“. Strauss lehnte die parlamentarische Demokratie ab, weil sie Rangunterschiede verwische und dem Genie schade. Von seinem strengen Vater war er klare Weisungen gewohnt. Eine ähnliche Autoritätsstruktur erwartete er auch in Politik und Kunst.
Glaube an das Führerprinzip
Obwohl sich Strauss gelegentlich auch ironisch über den deutschen Kaiser geäußert hatte, blieb das Kaiserreich seine eigentliche politische Heimat. Die Revolution hielt er für „Blödsinn“. Angesichts der Weimarer Republik äußerte er im Juni 1928 gegenüber Hofmannsthal und Harry Graf Kessler die Sehnsucht nach einer Diktatur. Die neue Hitler-Regierung erweckte bei ihm schon im März 1933 „gute Hoffnung für die Zukunft der deutschen Kunst“. Als ihm im November die Präsidentschaft der Reichsmusikkammer angetragen wurde, nahm er dieses Angebot sofort an. Zu Recht sah Strauss das Amt als Chance, den verhassten Einfluss der leichten Musik zurückzudrängen und den ernsten Komponisten wieder die Führungsrolle zu verschaffen, die einst die Genossenschaft Deutscher Tonsetzer anvisiert hatte. Strauss begrüßte es, dass das Dritte Reich den Parlamentarismus durch das autoritäre „Führerprinzip“ ersetzte. In dankbarer Erinnerung an den 15. November 1933, den Tag der Eröffnung der Reichskulturkammer, komponierte er für Joseph Goebbels sein Lied „Das Bächlein“. Die Schlusszeile „Du sollst mein Führer sein“ des angeblich von Goethe stammenden Gedichts ließ er dabei zweimal wiederholen.
Am gleichen 15. November 1933 hatte Strauss den Berufsstand Deutscher Komponisten gegründet, den er als Kontrollorgan der Urheberrechtsgesellschaft Stagma betrachtete. Zielstrebig sorgte er dafür, dass die Stagma-Satzung von „vormärzlich-demokratischen Anschauungen“ befreit wurde. Bei seinen eigenmächtig per Dekret durchgeführten Aktionen berief sich Strauss auf das Führerprinzip. Da er Adolf Hitler als obersten Führer anerkannte, ließ er die politischen Reden, die er im Frühjahr 1934 hielt, mit „Führer“-Huldigungen enden. „Mit dem nochmaligen Dank an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Dr. Goebbels, unseren lieben Minister“, erklärte Strauss beispielsweise am 18. Februar beim Deutschen Komponistentag, „verbinde ich die herzlichsten und aufrichtigsten Wünsche für den Führer des deutschen Volkes, den Schirmherrn der Künste, den Volkskanzler Adolf Hitler.“
Trotz dieser eindeutigen politischen Bekenntnisse glaubte Strauss weiterhin, eigentlich unpolitisch zu sein. Darin stimmte er mit Hitler und Goebbels überein, die vorgaben, nicht Politik zu betreiben, sondern Staatskunst. Wie Hitler, setzte sich der Komponist für ein primär nationales Repertoire ein und bekämpfte rigoros die atonale Musik. Um seinen Einfluss noch zu vergrößern, schaltete er Konkurrenten wie Paul Graener rücksichtslos aus und ernannte die schöpferisch bedeutungslosen, ihm aber treu ergebenen Parteimitglieder und SA-Männer Hugo Rasch und Julius Kopsch zu seinen engsten Mitarbeitern. Tatsächlich konnte Strauss den Status der ernsten Komponisten und nicht zuletzt seine eigenen Einkünfte beträchtlich verbessern. Betrug sein steuerpflichtiges Gesamteinkommen 1932 noch 55.000 RM, so steigerte es sich für das Jahr 1934 auf 152.000 RM.
Machtverlust
Um auch weltweit den deutschen Einfluss anzuheben, gründete Strauss 1934 den Ständigen Rat für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten, zu dessen Präsident er sich ernennen ließ. Da er aber gleichzeitig die NS-Rassenpolitik ablehnte und mit dem Juden Stefan Zweig die Oper „Die schweigsame Frau“ schuf, da zudem Klagen über seine Amtsführung laut wurden, wurde er am 11. Juni 1935 – nur wenige Tage nach der Uraufführung der „Schweigsamen Frau“ – als Präsident der Reichsmusikkammer entlassen. Der Hauptvorwurf lautete, dass er die Rassenfrage nicht entschieden genug vertreten habe.
Das Ende seiner Präsidentschaft reduzierte zwar seine Macht, bewog Strauss aber zu keiner grundsätzlichen Umorientierung. Auch angesichts seiner jüdischen Schwiegertochter erklärte der sonst so selbstbewusste Künstler sich zu weiteren Zugeständnissen bereit. Umgekehrt wollte das Regime auf den weltbekannten Komponisten als kulturelles Aushängeschild nicht verzichten. Zu einer erneuten Annäherung an Goebbels kam es im Mai 1938 in Düsseldorf, als Strauss bei den Reichsmusiktagen der Grundsatzrede des Ministers höhere Weihen verlieh, indem er einleitend sein „Festliches Präludium“ dirigierte – wie schon im November 1933 bei der Eröffnung der Reichskulturkammer. Obwohl Strauss Politiker hasste, suchte er instinktiv doch immer ihre Nähe.
Während des Krieges wurde dem Regime allerdings die leichte Muse nützlicher als ein Richard Strauss. 1941 demütigte Goebbels den greisen Komponisten mit dem Vorwurf: „Lehár hat die Massen, Sie nicht!“ Dennoch wurde ein Jahr später „Capriccio“ unter der Schirmherrschaft des Ministers uraufgeführt. Da Strauss Politik und Geschichte weiterhin nur unter dem Aspekt des persönlichen Nutzens betrachtete, erregte die Zerstörung der Opernhäuser in München und Wien ihn stärker als die Millionen von Kriegstoten und ermordeten Juden. Sein eigenes Ende betrachtete er als das Ende aller großen deutschen Musik.
Dass der einstige Avantgardist seit dem „Rosenkavalier“ kaum noch musikgeschichtlich wegweisende Werke geschaffen hatte, hat er selbst nicht mehr wahrgenommen.