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Ein Musiksender spielt keine Musik mehr

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Sex, SMS, Call-in Shows und rülpsende Klingeltöne gestalten das neue VIVA Programm
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Im Wirtschaftsdeutsch sehen die Fakten präzise aus. Der Konzern Viacom (unter anderem CBS, Paramount, Musikkanal MTV) hält rund 95 Prozent der Aktien an der Viva Media AG mit ihrem Musiksender VIVA. Zudem kontrolliert Viacom neben VIVA und MTV die Kleinsender VIVA Plus sowie MTV Pop. VIVA lebt unwidersprochen unter der Fuchtel des ehemaligen Konkurrenten MTV. Einhergehend mit wirtschaftlichen Folgen wie eventuelle Standortverlagerung oder MitarbeiterReduktion sind Programm-Umstrukturierungen, deren Folgen letzte Reste der Musikkultur bei VIVA im Jahr 2005 humorlos plätten.

2004 liefen alle den Mainstream störende Sendungen bei VIVA aus. Die Viacomer-Denker setzten mit „Mixery Raw Deluxe“ die einzige HipHop-Sendung im deutschen TV ab, „Fast Forward“ mit seiner unformatierten Musik, präsentiert von Charlotte Roche, musste ebenfalls weichen. Sendungen, denen kleinste menschliche Redaktionen zur Seite standen. Deutliche Anzeichen, dass Popmusik als facettenreiche Kultur im Konzern Viacom abgeschafft werden soll, denn für Viacom bleibt der automatisierte Main-stream einfacher zu kontrollieren als die Format-Ausreißer, die eventuell schwer vermarktbare Sub- und Verweigerungskulturen anzetteln. VIVA und MTV müssen per Konzerndekret auf Schmusekurs fahren. Das war bis vor ein paar Jahren noch ambivalenter: MTV gab den erfahrenen Musiksender mit Distanz zum Künstler, VIVA fungierte zeitlebens als proletarischer Gegenpol, dem nichts zu billig oder bunt war. „Alles ist Pop“, tönte VIVA- Chef Dieter Gorny jahrelang. Er glaubte daran und wurde reich.

Leider änderte sich die Publikumslandschaft kegelförmig. Alles lief auf den engen Teil des Trichters namens Mainstream zu. Ein Umstand, den VIVA mit zu vertreten hat. Weil man nicht am eigenen Profil feilte, sondern amerikanische Originale der Abteilung Trash-TV (MTV’s „Jackass“) kopierte um Marketing kompatibel zu bleiben, denn was alle ständig sehen, ist eine verlässliche Konstante für Werbekunden. Was sich beim Radio längst vollzogen hatte (Gleichklang aller rotierender Sender), hielt in die deutsche Musikkanal-Landschaft Einzug und erreichte 2003/2004 den Höhepunkt. Dieselben angloamerikanischen Rap- Videos liefen ununterbrochen, Redaktionen wurden entlassen und Musik wurde bei den Sendern durch Klingelton-Werbeblöcke ersetzt. Die Botschaft der Musikkanäle war klar: „Kauft lieber den ollen Klingelton der 80er-Jahre für 4,99 Euro pro SMS als eine Single der Nachwuchsband, denn am Klingelton verdienen wir und die Nachwuchsband spielen wir eh nicht.“

Am 13. Januar 2005 war es nun soweit. VIVA stellte das von Viacom konfigurierte TV-Programm vor, das scheinbar ohne Musik auskommt. „Young Entertainment Paket“ nennt man das. Will heißen, um die debilen Klingeltöne (wahlweise rülpsender oder lallender Elch) wurde das schale Programm für die Zuschauer unter 16 gestrickt, das sich bei näherer Betrachtung als gut getarnte Handy-Abzocke darstellt: Am 17. Januar startete zum Beispiel „17“, eine Show, die Schule, Eltern und Gesellschaft komplett ersetzt. Die Viva-Zuschauer sollen sich von den „17“-Moderatoren in allen Liebes- und Lebenslagen helfen lassen. Am Handy per SMS oder im Chat-Room. Denn zu jedem Problem soll der polyfone Klingelton mitgeliefert werden – Stevie Wonders „I just called to say I love You“ böte sich zwingend an.

Dann gibt es eine neue SMS-Flirt-Show namens „Loveline“, deren Inhalt der Sender so beschreibt: „Bei Loveline kannst du checken, ob es dein(e) Liebste(r) wirklich ernst meint. Schick eine SMS und schon erscheint die Antwort als Prognose in Prozent live on air bei Loveline und kurz darauf auf deinem Handy.“ Wer kapiert, welche Werte das Liebes-Orakel zur Analyse verwendet, wird sich bei der Call-in-Show „Liebe, Sex & Video“ wieder finden, die „eine Stunde lässiges Love- TV zum Mitmachen mit Flirt-Lounge und Liebes-Beratung“ verspricht. Weil es noch tiefer geht, lässt sich VIVA nicht lumpen und öffnet mit „X-Rated“ eine der unteren Schubladen: Seit 20. Januar werden Videos gezeigt, die bislang nur zensiert zu sehen waren. HipHopper, die Kreditkarten durch sämtliche Öffnungen ziehen, Menschen, denen Kleidung fremd ist. Freigegeben ist die Sendung ab 18. Wahrscheinlich beamt man die heimlich glotzenden Minderjährigen per Handy von der Glotze weg.

Flankiert wird das Restprogramm von Entertainment- Serien wie „101 Juiciest Hollywood Hookups“ (die schönsten Paare der Entertainment-Welt), „101 Best Kept Hollywood Secrets“ (101 Hollywood Geheimnisse), „101 Most Shocking Moments“ (101 schockierende Momente der Unterhaltungsbranche) oder „Brainiac“ (Feuerteufel Richard Hammond sprengt alles, nur nicht sich selbst in die Luft). Zwar durften die Zuschauer die „Sarah Kuttner-Show“ als Popkultur-Krümel behalten, doch ohne fundierte Redaktion wird sich die unbeholfene Moderatorin sicher bald selbst aus dem Programm kegeln.

So degeneriert sieht Musik bei VIVA aus. Ein Musiksender, der keine Musik spielt. Und wenn, dann nur Musik, die vor 20 Jahren „in“ war und als Klingelton reanimiert wird. Man gaukelt dem Zuschauer durch interaktive Sendungen Interesse vor, und um die Ecke wird abgezockt. Eine traurige Entwicklung, die den Musiksender VIVA zum schmierigen Entertainment- Händler macht.

Doch die Ware, die VIVA anbietet, hat das Haltbarkeitsdatum längst überschritten. Und wo keine Musik, da keine Popkultur. Dieter Gorny ist nach zehn Jahren VIVA widerlegt. Quod erat demonstrandum.

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