Sie zählt zur Garde der Berliner Wahrzeichen: die Philharmonie in der Nähe des Potsdamer Platzes. Am 15. Oktober feiert sie ihr 50-jähriges Bestehen. An jenem Tag des Jahres 1963 weihten sie der große Dirigent Herbert von Karajan und seine Philharmoniker mit Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie ein. Solisten waren die von Karajan entdeckte Sopranistin Gundula Janowitz sowie Sieglinde Wagner, Luigi Alva und Otto Wiener. Zusammen mit dem Chor der St. Hedwigs-Kathedrale und dem RIAS-Kammerchor machten sie alle die „Ode an die Freude“ zum Erlebnis.
Eigens zu diesem festlichen Anlass erklang eine von dem Berliner Komponisten Boris Blacher geschaffene Festfanfare. Hatte Wilhelm Furtwängler in der alten Philharmonie in der Bernburger Straße 23 in Kreuzberg als Chefdirigent der Philharmoniker wahre Triumphe gefeiert, tat dies sein Nachfolger von Karajan von Stund an in der neuen Philharmonie, deren Baukosten 17 Millionen Mark betrugen.
An der Eröffnung der neuen Philharmonie konnten die Berliner im Sowjetsektor wegen des Baus der Mauer nach dem 13. August 1961 nicht teilnehmen. Der Potsdamer Platz war inzwischen Todesstreifen geworden. Für die Menschen im Osten öffneten sich erst nach dem Fall der Mauer die Türen der Philharmonie. Am Abend des 12. November 1989 kamen mehr als zweitausend von ihnen der Einladung des Philharmonischen Orchesters nach. Pianist Daniel Barenboim stellte Beethovens erstes Klavierkonzert in den Mittelpunkt seines Programms. Der Applaus war unbeschreiblich, die Tränen flossen in Strömen.
Blick in die Amtsstuben
Was sich in den Jahren der Planungen für dieses architektonische Juwel mit seinen 2.270 Plätzen in den Amtsstuben abspielte, war alles andere als eine Ode an die Freude. Es war ein Thema mit Variationen. Der Neubau war notwendig geworden, weil die alte Philharmonie bei einem Bombenangriff am 30. Januar 1944 in Schutt und Asche gefallen war. Der Tenor Heinrich Schlusnus war der letzte Künstler, der am Nachmittag des 30. Januar 1944 in der Konzerthalle mit Franz Schuberts „Winterreise“ auftrat. Am ehemaligen Zugang erinnern seit 1987 nur noch ein stilisierter Torbogen des Bildhauers Michael Schoenholtz und eine in die ehemalige Einfahrt eingelassene Tafel an die untergegangene Musikhalle. Einer der Sitze steht heute einsam und verlassen im Musikinstrumentenmuseum neben der Philharmonie.
Wenige Monate nach dem Ende der Berliner Blockade regten am 25. September 1949 Oberbürgermeister Ernst Reuter, Wilhelm Furtwängler und der Verleger Erik Reger in einer Anzeige im „Tagesspiegel“ den Wiederaufbau der Philharmonie und die Gründung der Gesellschaft der Freunde der Philharmonie an. „Wie sehr … der Ruf eines Orchesters mit dem einer repräsentativen Kulturstätte verbunden ist, erweist sich am Beispiel anderer Städte. Man konzertiert nicht in Wien schlechthin, sondern im Musikvereinssaal; New York hat die Carnegie Hall, Amsterdam den Concertgebouw.“
Die Initiatoren baten die Bevölkerung um Spenden für den Neubau. Innerhalb kurzer Zeit kamen 1,5 Millionen Mark zusammen. Wenige Wochen nach dem Aufruf gab die Post für das Wiedererstehen der Philharmonie zwei Sonderbriefmarken im Wert von 10+5 und 30+5 Pfennige heraus. Es dauerte aber geschlagene 16 Monate, bis die Bauverwaltung endlich am 6. Februar 1951 mitteilte, die neue Philharmonie müsste so liegen, dass sie auch für die Bewohner des Sowjetsektors der Stadt günstig zu erreichen sei. Es stünden drei Standorte mit U- oder S-Bahnhöfen in der Nähe zur Auswahl: das ehemalige Joachimsthalsche Gymnasium an der Bundesallee in Wilmersdorf (heute ist dort der Fachbereich Musik der Universität der Künste untergebracht), ein Grundstück im Tiergarten am Potsdamer Platz und eines an der Prinz-Albrecht-Straße auf dem Gelände des ehemaligen Gestapo-Hauptquartiers (heute das Gelände „Topografie des Terrors“) in Kreuzberg.
Am 26. Oktober desselben Jahres schlugen hingegen die im Rat der Bürgermeister versammelten „Bezirksfürsten“ etwas weltfremd vor, auf den Neubau der Philharmonie zu verzichten und sich vorerst mit dem in Bau befindlichen Konzertsaal der Hochschule für Musik an der Ecke Fasanen-/Hardenbergstraße in der Nähe des Bahnhof Zoo zu begnügen. Die offenbar schlecht informierten Kommunalpolitiker übersahen, dass dieser Konzertsaal nur über 1.360 Plätze verfügt, die alte Philharmonie jedoch 2.500 Zuhörern Platz geboten hatte.
Die inzwischen ins Leben gerufene Gesellschaft der Freunde der Philharmonie war über den Vorschlag der Bürgermeister empört und brachte das Joachimsthalsche Gymnasium ins Spiel. Diesem Vorhaben widersprach der Kreuzberger Bürgermeister Willy Kressmann. Wie die alte Philharmonie müsste auch die neue in Kreuzberg liegen. Die Industrie- und Handelskammer liebäugelte im September 1954 mit dem Areal des Funkturms als Standort. In eine dort entstehende Kongresshalle könnte auch ein Konzertsaal integriert werden. Endlich am 10. Februar 1959 traf der Senat die längst überfällige Entscheidung. Er beschloss, die neue Musikhalle in der Nähe des Potsdamer Platzes zu bauen.
Von innen nach außen
Als Architekten gewann man den in Berlin tätigen Hans Scharoun. Zum Erstaunen der Fachwelt baute dieser einen Konzertsaal „von innen nach außen“. Dreh- und Angelpunkt seiner Planung war das Musikpodium, von dem sich nach allen Seiten hin die Zuschauerplätze wie in einem Weinberg nach oben ranken. Scharoun erläuterte bei der Eröffnung des Hauses, was ihn dazu bewogen hatte: „Ist es Zufall, dass überall, wo improvisierte Musik erklingt, sich Menschen sofort zu einem Kreis zusammen schließen? Musik im Mittelpunkt – das war von Anfang an der Leitgedanke, aus dem sich die Gestalt des Saales der neuen Philharmonie ergibt, des Saales, der seine Priorität bei dem gesamten Bauwerk bewahrt. Das Orchester mit seinem Dirigenten wird auch räumlich und optisch zum Mittelpunkt, denn es befindet sich zwar nicht in der mathematischen Mitte des Raumes, wohl aber ist es von allen Seiten von den Reihen der Zuhörer umringt.“ Das zeltartige Dach des Saales steigt auf der Nord- und Südseite stark an. Auf der äußersten Spitze des Daches nimmt die aus Leichtmetall hergestellte Skulptur „Phönix“ von Hans Uhlmann eine beherrschende Position ein. Der Außenbau erhielt erst zwischen 1978 und 1981 durch die Verkleidung mit gelben, eloxierten Aluminiumblechen sein heutiges Aussehen.
Für sein bahnbrechendes Meisterwerk musste Scharoun viel Kritik einstecken. Künstler stießen sich daran, dass man in diesem Konzertsaal nicht mehr zu ihnen und ihrer Kunst andächtig aufschaute, sondern herabschaute. Der heftigste Kritiker war der Münchener Generalmusikdirektor Hans Knappertsbusch. Er sei gewohnt, die Augen der Musiker auf sich gerichtet zu wissen, nicht diejenigen des Publikums. Der Dirigent sagte sogar ein für 1964 zugesagtes Konzert ab. Karajan dagegen stand immer felsenfest zu Scharoun. Ohne seine einsichtsvolle und wagemutige Unterstützung hätte sich Scharouns Werk nie durchgesetzt.
Die Philharmoniker als Zugpferd
Und die Berliner? Sie finden das Haus schon seit langem „toll“. Doch zunächst meckerten auch sie über den Bau mit den schiefen Linien und qualifizierten ihn abwertend als „Zirkus Karajani“ ab. Dieser verächtlich gemeinte Begriff ist schon längst aus dem Sprachschatz der Berliner verschwunden. Wie sehr der einst heftig kritisierte Scharoun-Bau im Verlauf der Jahrzehnte den Berlinern ans Herz gewachsen ist, zeigte sich am frühen Nachmittag des 20. Mai 2008, als die Philharmonie um Haaresbreite einer Feuerkatastrophe entging. Im Dachbereich hatten Dämmplatten bei Schweißarbeiten Funken gefangen, die einen Schwelbrand verursachten. Ganz Berlin war entsetzt und bangte um „seine“ Philharmonie. Der gerade in Berlin weilende ehemalige Chefdirigent Claudio Abbado sah mit versteinertem Gesicht den Löscharbeiten zu. Doch die Feuerwehr konnte die Katastrophe verhindern. Mit Scharouns Werk wurde ein neues Kapitel der Konzerthausarchitektur aufgeschlagen. Am deutlichsten war es zuerst an der Gestaltung des Konzertsaals im Opernhaus von Sydney und des Gewandhauses in Leipzig abzulesen. Die Architektur der neuen Philharmonie wurde auch als Vorbild für den Bau der Sutory Concert Hall in Tokio, des Parco della Musica in Rom, des Saals des dänischen Rundfunks in Kopenhagen oder der Walt-Disney-Hall in Los Angeles herangezogen.
Indes: Wie hoch der Stellenwert der Philharmonie wegen seiner gewagten Architektur zu veranschlagen ist, dürfte unklar sein. Dafür ist der Bau zu sehr mit dem zur Weltspitze zählenden Orchester der Berliner Philharmoniker verbunden. Spielen diese, bleibt kein Platz leer, treten andere Orchester auf, finden sich im Saal mitunter nicht wenige lange Reihen mit leeren Sitzen. Touristen zum Beispiel gehen in der Regel nur wegen der Philharmoniker in die Herbert-von-Karajan-Straße 1. Mit Ausnahme des Konzerthausorchesters treten alle anderen Orchester der Stadt ebenfalls in der Philharmonie auf. Eines wird man dort jedoch nicht hören: Rock- und Volksmusik.
Noch ein Thema mit Variationen: Von Anfang 1990 bis Ende April des folgenden Jahres musste sich die Philharmonie einer Kur unterziehen. Die Decke des Saales zeigte Defekte auf und eine Asbestsanierung war dringend geboten. Die Bauverwaltung erarbeitete einen Kostenvoranschlag von 15 Millionen Mark, am Ende waren es dann 45 Millionen.
47 Millionen Mark teurer als geplant: der Kammermusiksaal
Nach der Eröffnung vor 50 Jahren fehlte der Philharmonie aber immer noch das I-Tüpfelchen: der ebenfalls von Scharoun geplante Kammermusiksaal gleich neben der Philharmonie. Und wieder war es die Gesellschaft der Freunde der Berliner Philharmonie, die sich für den Bau einsetzte. Als Architekten gewann man Edgar Wisniewski, einen Schüler des großen Baumeisters. Die Endkosten beliefen sich auf 145,7 Millionen Mark. 1983 waren noch 98,7 Millionen Mark veranschlagt worden. Karajan und die von ihm entdeckte Geigerin Anne-Sophie Mutter sowie die Philharmoniker eröffneten den rund tausend Plätze fassenden Saal mit Vivaldis „Vier Jahreszeiten“.
Zum Auftakt der Festwoche zum 50. Geburtstag des Hauses hat Chefdirigent Sir Simon Rattle, würdiger Nachfolger seiner großen Vorgänger, Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion in einer Inszenierung von Peter Sellars aufs Programm gesetzt. Für Rattle ist die Philharmonie „die Stradivari unter den Konzerthäusern“.