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An einem mythischen Ort der russischen Musikgeschichte

Untertitel
Die Junge Deutsche Philharmonie besucht Moskau und Sankt Petersburg – Werke von Mahler und Richard Strauss
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Wie entwickelt sich unter dem Einfluß täglicher Proben und/oder Konzerte ein Repertoire während einer Tournee: Wird es von Mal zu Mal besser, spannender, routinierter? Oder hängt seine jeweilige Gestalt eher von den Aufführungsbedingungen ab? Die Tournee der Jungen Deutschen Philharmonie läßt aufführungstechnisch weniger eine stringente Entwicklung zum Besseren oder Schlechteren erkennen, sondern eher eine Differenz nach verschiedenen Parametern und Rahmenbedingungen der Aufführung. Die Arbeitsphase zu Beginn der Tournee hat offenbar zwischen dem Orchester und seinem Dirigenten einen gemeinsamen Zeichenvorrat entwickelt, und Rudolf Barschai weiß, was er dem Orchester zumuten kann. Und das ist viel: Gelegentlich (zum Beispiel beim Konzert in der Moskauer Philharmonie) geschieht es, daß Barschai die Wahl der Tempi besonders im letzten Satz von Mahlers fünfter Sinfonie spontan und ungeprobt variiert. Nach kaum hörbaren Reibungen im Orchester entsteht dabei eine plötzlich enorm gesteigerte Aufmerksamkeit, Anspannung und Intensität der Spielhaltung. Daß der Preis dafür eine winzigkleine Ungenauigkeit in der rhytmischen Koordination ist, wird billigend in Kauf genommen. Aus der Perspektive der Hörer ist sie ohnehin kaum wahrnehmbar oder wirkt beabsichtigt, und wer weiß: Vielleicht ist sie das auch? Barschais größte Aufmerksamkeit gelten den Klangfarben und der Dynamik. Über auftrumpfende Effekte ist er erhaben, große Dirigiergesten gibt es nicht mehr. Seine Darstellungsarbeit ist sparsam, seine Interpretation von Mahlers vielgestaltiger, brüchiger Musik verzichtet auf harte Schnitte und modelliert stattdessen lieber wendungsreich und flüssig. Den Trauermarsch im ersten Satz der Mahler-Sinfonie läßt er nicht schwer auf der Musik lasten, sondern fügt ihn eher als Stilzitat im Hintergrund ein, der walzernde Scherzo-Satz taumelt farbenfroh und haltlos durch eine sich auflösende Welt, und wer will, kann sich dazu in Moskau währten der 850-Jahr-Feier der Stadt auch außermusikalische Analogien einfallen lassen. Die morbide Stimmung der Musik und ihre ironiefreie Montage-Kompositionstechnik werden bei Barschai mal melancholisch weichgezeichnet, mal fahl ausleuchtet. Richard Strauss’ „Vier letzte Lieder" nach Texten von Hesse und Eichendorff stehen im Konzertprogramm wie eine todessehnsüchtige, gleichwohl gelassene Präambel. Die Stimme der Sopranistin Pamela Coburn fügt sich hervorragend zu Barschais Auffassung der Musik. Dramatische Gesten setzt sie sparsam ein, ihre Stärke ist die lyrische Gestaltung. Die dynamische Abstimmung zwischen Orchester und Stimme gehorcht einer empfindlichen, durchaus gewagten Dramaturgie: Zuweilen scheint es, als wolle das Orchester gleich die Stimme übertönen – aber dazu kommt es nie. Diese alles andere als glatte, nämlich lyrisch-abgründige Perfektion stellt sich in jeder Aufführung neu her, und die Anspannung in der Arbeit daran läßt nicht nach. Die jeweilige Aufführungsqualität von Mahlers fünfter Sinfonie variiert dagegen leicht mit den Aufführungsorten. In Helsinki ist es die hallige Akustik der Johanneksenkirkko, die die Arbeit etwas mühsam macht. Im Konzertsaal der Schostakowitsch-Philharmonie in Sankt Petersburg sitzt das Orchester auf einer sehr breiten Bühne, so daß das gegenseitige Hören erschwert ist. Barschais relative Geringschätzung einer metrisch exakten Schlagtechnik hat hier einige kleinere Stolpermomente zur Folge. Das Konzert im Saal des Moskauer Konservatoriums, einem mythischen Ort der russischen Musikgeschichte, ist unter dem Aspekt der Intensität, der Farben- und Ausdrucksfülle der Höhepunkt im Nordosteuropa-Abschnitt der Tournee der Jungen Deutschen Philharmonie. In technischer Hinsicht aber ist das Konzert im Musiikkikeskus (Musikzentrum) in Kuopio das ausgereifteste. Der Saal dieses Hauses mit seiner für Orchester und Publikum gleichermaßen außergewöhnlichen Akustik läßt ein kristallines Klangbild entstehen, dessen Reichtum durch seine zurückhaltende Dramatik eher gesteigert als geschmälert wird.

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