Den Abschied überschatteten dunkle Wolken. Wie geht es weiter beim Südwestdeutschen Rundfunk, dem SWR, mit der Neuen Musik? Die Fusionspläne der Intendanz für die beiden hauseigenen Sinfonieorchester sorgen seit mehr als einem Jahr für Proteste, Unruhe und Empörung (siehe auch S. 8 dieser Ausgabe). Keine guten Aussichten für Donaueschingen, Schwetzingen, auch nicht für das Stuttgarter „Éclat“-Festival, obwohl es sich seit einiger Zeit organisatorisch vom Rundfunk abgenabelt und der „Musik der Jahrhunderte“ angeschlossen hat – ganz sind natürlich die Verbindungen nicht gekappt, der SWR überträgt viele Konzerte, stellt für einen Auftritt auch sein Radiosinfonieorchester Stuttgart ab. Für den scheidenden künstlerischen Leiter Hans-Peter Jahn war es die letzte Gelegenheit, noch einmal die Wichtigkeit seiner Arbeit für die Musik unserer Gegenwart zu demonstrieren: achtzehn Uraufführungen dienten als Beweisstücke.
Einst hieß es „Tage der Neuen Musik Stuttgart“. Dann legte man sich einen griffigeren Titel zu: „Éclat“-Festival – nicht im „Skandal“-trächtigen Sinn, sondern eher nach der französischen Bedeutung: „Splitter, Glanz“. Die ästhetische Totale der Gegenwartsmusik sollte gezeigt und beleuchtet werden. Eine Riesenaufgabe, denn dominierende Richtungen existieren in der Neuen Musik schon seit längerem nicht mehr. Jeder Komponist konnte nach seiner Façon selig werden. Und auch denjenigen, die als Veranstalter und Dramaturgen für die Programme zuständig sind, war es erlaubt, eigene Vorlieben und Ideen ins Spiel zu bringen – natürlich nur, sofern sie überhaupt welche hatten.
An Ideen, Überzeugungen, Kenntnissen, Fantasie und Kompetenz hat es Hans-Peter Jahn nie gefehlt. Fast von Beginn an gestaltete er die „Tage der Neuen Musik Stuttgart“, dann auch von 1997 an das „Éclat“-Festival. Unter seiner Leitung gewann das Spezialfestival von Jahrgang zu Jahrgang ein immer stärkeres Profil und auch größeres Gewicht in der Konkurrenz zu anderen renommierten Neue-Musik-Zentren, wie etwa Donaueschingen, Witten oder der Berliner Maerz-Musik.
Als Redakteur für Neue Musik beim Südwestrundfunk konnte Jahn vielfältige Verbindungen zu Komponisten und anderen Institutionen knüpfen: mit der „Musik der Jahrhunderte“, die seit dem Rückzug des Senders aus den Musiktagen als alleiniger Veranstalter von „Éclat“ fungieren, und mit deren engagierter Leiterin Christine Fischer ihn von Anfang an der gemeinsame Wille verband, dem Festival eine weite Ausstrahlung zu geben. Das ist in vielen Jahren glänzend gelungen. Und wenn Hans-Peter Jahn demnächst in den Ruhestand tritt, der sicher ein Unruhestand werden wird (er ist ein brillanter Cellist), dann verbindet sich dieser Abschied mit der Hoffnung, dass sein Nachfolger Björn Gottstein zusammen mit Christine Fischer den alten Jahn-Geist wie in Spiegelkabinetten weiter funkeln lassen möge.
Das letzte Programm trug noch einmal die Handschrift des Scheidenden. Geschätzte und befreundete Komponisten fanden sich mit neuen Werken ein: Hans Zender, Matthias Spahlinger, Wolfgang Rihm sowie Helmut Lachenmann, der zwar keine Novität beisteuerte, aber mit seinen „Concertini“ für im Raum verteiltes Orchester das vielleicht avancierteste Stück einbrachte: die Entfaltung instrumentaler Individualitäten mit ihren spezifischen Klangfarben im Raum, in dem sie zu einer Einheit gelangen. Die Wiedergabe durch das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter der Leitung des kurzfristig für den erkrankten Peter Rundel eingesprungenen Matthias Herrmann erreichte zwar nicht ganz die einmalige Brillanz der Uraufführung durch das Ensemble Modern, aber sie vermittelte durch Solidität doch einen authentischen Eindruck des Werkes.
Was Hans-Peter Jahn alle Jahre hindurch besonders am Herzen lag, war das Thema Musiktheater, früher auch einfach „Oper“ genannt. Unablässig hat er sich Jahr für Jahr etwas anderes ausgedacht, um wegzukommen vom rein Narrativen, von der Erzähloper, hin zu neuen Formen, Klang-im-Raum-Gestalten, Text-und Musikstrukturen. Das führte nicht immer zu neuen Meisterwerken, der Versuch war ein ums andere Mal wichtiger als das künstlerische Ergebnis. Aber das ist nun einmal selbstverständlich, wenn man sich überhaupt auf ein künstlerisches Experimentierfeld wagt, in dem naturgemäß auch Minen ausgelegt sein können.
In diesem Jahr riskierte der aus Mannheim stammende Komponist Markus Hechtle den Sprung ins Minenfeld, angeregt von Jahn und dem Regisseur Thierry Bruehl. Als Grundlage für ihr neues Musiktheaterwerk nahmen sie einen frühen Text des Schweizer Dichters Friedrich Dürrenmatt, dessen Ballade „Minotaurus“ vollständig verwendet wird. Hechtle behält Dürrenmatts Titel bei. Der Mensch mit dem Stierkopf, oder der Stier mit dem Menschenleib – ein kompliziertes, unentwegt sich spiegelndes Phänomen menschlicher Existenz, des Individuums selbst, dessen Aktualität bis hin in bewusstseinsspaltende Zustände ungebrochen ist. Das tritt in Dürrenmatts virtuosem Gedankenspiel, inzwischen leicht historisch wirkend, gleichwohl plastisch hervor: das Labyrinth als Chiffre unserer aller Existenz.
Hechtle spaltet seine Darstellung gleichsam in zwei Figuren: eine Spielgestalt auf der Szene und einen Pianisten, platziert auf dem oberen Rand eines vier Meter hohen Spielkastens, auf dem auch die Instrumentalisten des Ensemble Modern Platz genommen haben (siehe unser Foto). Der gesprochene Text (beeindruckend, wie die Schauspielerin Nicola Gründel aus Worten unablässig Gesten, Gebärden, Bewegungen ableitet) und das Klavier laufen unablässig parallel wie „zweistimmig“ ab. Das wirkt zunächst überzeugend, auch durch die kurzen Einwürfe des Orchesters, die wie Kommentare zum Geschehen gesetzt sind; aber auf die Dauer von fast siebzig Minuten, die das Werk in Anspruch nimmt, doch leicht monoton und einebnend. Man vermisst einen Bruch, der die Tonlage ins Gewaltsame, Brutale, Zerstörerische wendet. Der rote Ariadnefaden, an dem sich Theseus wieder aus dem Labyrinth heraus hangelt, ist hübsch anzusehen und dekorativ, führt aber nicht wieder in die Abgründe der alten Geschichte, die immer wieder auch unsere eigene sein sollte. Durch die Intensität der Darstellerin und der musikalischen Begleitung ergab sich trotzdem ein suggestiver theatralischer Eindruck.
Was weiter herausragte: Hans Zenders Akkordeon-Solostück „Ein Wandersmann. . . zornig“, in der Reihe „Hölderlin lesen“, hier als „Hölderlin lesen V“ geführt. Textvorlage: aus der letzten „Hymne Mnemosyne“ einen Vers als Titel der Komposition, dann zwei Nummern aus „Pläne, Bruchstücke, Notizen“ mit dem Zusatztitel „Zu Sokrates Zeiten“. Zender setzt das Akkordeon häufiger in Orchesterstücken ein. Hier emanzipiert es sich sozusagen: Hölderlins Sprache wird eine zweite Ebene eingezogen, eine Klangebene – das Instrument überführt Hölderlins Rede in Klang, in eine Klangrede. Sprache als Zornesausbruch, ohnmächtig gegenüber den Gewalten des „öden Tages“, fern der göttlichen Kraft, die der Dichter im Wort zu beschwören versucht. Das ist hoch aktuell. Zender leidet an der Gedankenlosigkeit der „Verwalteten Welt“, an den Ignoranten in Politik, Ämtern, Medien, die der „Kunst“ immer wieder Wunden schlagen – im SWR-Rundfunkhaus gibt es dafür gerade ein schlagendes Beispiel mit den beiden Sinfonieorchestern (wieder auf Seite 8).
Teodoro Anzelotti entband seinem Akkordeon heftige Staccati, sprechende Rhythmen, die in Zerfall übergehen im „Duett“ mit dem sprechenden Spieler. Eine stille Kantilene wirkt wie eine ferne Erinnerung. Im „Zorn“ des „Wandersmannes“ klingt tiefer Pessimismus hindurch.
Danach ganz andersartig Carola Bauckholts Vokalstück „Stroh“ für Sopran, Mezzosopran, Bariton und Bass. Hintergründig-ironisch werden mit Worten Wirklichkeiten erfasst, Spitzen abgeschossen, die Welt beobachtet. Aus den Vokalen und Konsonanten der Worte entspringen die Klänge – der Klang beginnt zu sprechen. Das ist intelligent erdacht und geradezu virtuos umgesetzt. Und wurde von den vier „Neuen Vokalsolisten“ mit umwerfendem Elan gesungen und dargestellt.
Das Konzept Hans-Peter Jahns für sein letztes „Éclat“-Festival bestand unter anderem darin, im einzelnen Konzertprogramm kontrastierende Klang-Hervorbringungen zu zeigen. So folgte im Konzert mit Zenders Akkordeon-Solo und Bauckholts Vokalquartett noch das große Ensemblestück mit Alberto Hortigüelas „Cross-reading“. Der spanische Komponist (Jahrgang 1969) ließ sich von Texten Maurice Merleau- Pontys und Ludwig Wittgensteins anregen. Zu hören sind dicht komponierte Klangschichtungen, viele Repetitionen, die rhythmische Energien abstrahlen, ein oft virtuoses Instrumentalgeflecht, aparte Klangfärbungen, die einen Hauch Spanien evozieren. Für das Ensemble Modern unter Clemens Heil war es sozusagen „ein gefundenes Fressen“ – dieses Ensemble veredelt jedes Stück.
Ein anderes Kontrastprogramm: Jörg Widmann benutzt das Nachspiel seiner „Babylon“-Oper mit dem „Sternbild des Skorpion“, um ein völlig neues Werk daraus abzuleiten. Statt des Orchesters wie in der Oper agiert im „Skorpion“ ein Instrumentaltrio mit Klarinette, Violoncello und Akkordeon, die den Countertenor begleiten. Eine subtile Kammermusik ist dabei entstanden, fein ausgehörte instrumentale Klänge, von Teodoro Anzellotti, Stefan Schneider (Klarinette) und Jean-Guihen Queyras (Violoncello) wunderschön gespielt. Und vom Countertenor Daniel Gloger mit gewohnter Souveränität gesungen: Peter Sloterdijks „Skorpion“-Text erfuhr eine intensive geistige Durchdringung. Danach von Hanspeter Kyburz ein sensibel ausgehörtes Violoncello-Solo: „Tropus“ für Jean-Guihen Queyras. Angeregt von Aristoteles‘ „Rhetorik“, dessen „Denken als Bewegung“ sowie Texttheorien von Cicero und Quintilian entwirft Kyburz ein differenziertes Stück fließender Bewegungen, durchbrochen von Pausen, Pizzicati, Flageolets, angeblich sehr schwer zu spielen, was bei Jean-Guihen Queyras aber nicht auffiel: Alles klang leicht, plastisch artikuliert, souverän eben. In Thomas Larchers Stück „Das Spiel ist aus“ auf einen Text Ingeborg Bachmanns setzte das SWR Vokalensemble unter Florian Helgath eine weitere Klangkontrastfarbe: Einfühlsam nähert sich Larcher den Worten und Inhalten des 1956 entstandenen Gedichts, das einem heute sehr fern und literarisch erscheinen will, von Larcher aber wieder in sensible Chor-Klang-Nähe gerückt wird.
Etwas Theatralisches in den Konzerten gehört bei Jahn immer dazu: Thomas Witzmann spendierte ihm mit dem Acht-Minuten-Stück „Stühle Rücken“ einen virtuosen Wirbel mit Stühlen, Notenpulten, Mikrophonen, vier Tänzern und Klangerzeugern. Rituelle Erscheinungen des Konzertbetriebs, Geräusche, Umbauten, Stühle rücken werden zur Hauptsache.
Hans-Peter Jahn hatte zu seinem Finale neben von ihm besonders geschätzten Komponisten auch ebenso geschätzte Interpreten eingeladen, wie zum Beispiel das Arditti Quartet. Irvine Arditti, Ashot Sarkissjan, Ralf Ehlers und Lucas Fels befanden sich gleichsam im Dauereinsatz. Matthias Pintschers „Study IV --- for Treatise on the Veil“ für Streichquartett, überträgt einen gleichnamigen Bilderzyklus des amerikanischen Malers Cy Twombly in eine „Klangstruktur“. Wie auf und hinter einem „Schleier“ (Veil) entfaltet sich ein feines Pianissimo-Klangstück, in Schichten und sich kreuzenden Lineaments, die durch die Schichtungen zugleich eine Klang-Raum-Perspektive erhalten. Ein leichter Manierismus haftet dem subtil gearbeiteten und von den Ardittis ebenso delikat gespielten Werk schon an, aber irgendwie gehört das bei dem Komponisten auch dazu.
Handfester präsentierte sich ein „Streichquartet mit Live-Elektronik“des Schweizers Thomas Kessler, wiederum mit den Ardittis. Die Idee des Komponisten war, die einzelnen Stimmen elektronisch so zu verstärken, dass sich jedes Einzelinstrument quasi zum Orchesterklang ausweitet. Kessler dachte dabei an Beethoven: sind dessen Streichquartette etwa Vorstudien zu den jeweils folgenden Sinfonien? Reine Spekulation? Einen gewissen Effekt macht Kesslers sinfonisches Streichquartett durchaus, aber ein gewisses Flachrelief ist ebenfalls zu konstatieren.
Das letzte Werk, das beim diesjährigen Éclat-Festival erklang, stammte von dem Freund und Wegbegleiter Wolfgang Rihm: Epilog und Huldigung für Hans-Peter Jahn. Auch ein Dank für eine wunderbare, immer wieder sich erneuernde Zusammenarbeit. „Epilog“ nennt Rihm seinen klingenden Abschiedsgruß, gesetzt für ein Streichquintett – wieder das Arditti Quartet, dem sich Jean-Guihen Queyras als zweiter Cellist anschloss. Rihms Quintett war und ist ein herzberührender Abgesang auf eine große Zeit der Neuen Musik, die Hans-Peter Jahn in rund drei Jahrzehnten in Stuttgart gestaltete. Rihm verschweigt hier nicht, dass ihn Schuberts Musik tief berührt, und manchmal klingt es auch von fern an den späten Richard Strauss und dessen ergreifende „Metamorphosen“, die der Komponist in der Trauer über das zerstörte Deutschland und natürlich der vielen Opernhäuser, 1945 komponierte. Wolfgang Rihms „Abgesang“ gewinnt über den aktuellen Anlass hinaus fast so etwas wie symbolische Bedeutung: die Behandlung der Musik im Rundfunksender seines Heimatlandes, die Auflösung zweier Orchester, die auch für sein Schaffen sehr wichtig waren, das ist eine neue Form der Zerstörung.