Mit dem verstärkten Ausbau des Sonderschulwesens in der Bundesrepublik der 70er-Jahre – die Bildungsreform wirkt sich auch auf die Entwicklung des Sonderschulwesens aus – beginnt mit der Ablösung des musischen Ansatzes eine neue Ära der Musik und des Musikunterrichts an Sonderschulen.
Sonderpädagogische Musiktherapie, heilpädagogische Musiktherapie, pädagogische Musiktherapie, therapeutischer Musikunterricht, musikalische Heilpädagogik, Musiktherapie als Heilpädagogik , heilpädagogisch-musiktherapeutische Förderung – kaum eine Kombination der Grundbegriffe Sonder- oder Heilpädagogik, Musik, Unterricht und Therapie, die während der vergangenen drei Jahrzehnte in der Fachliteratur nicht zu finden war. Hinter der Suche nach dem angemessenen Begriff steht das Bedürfnis, dem einen Namen zu geben, was an der Sonderschule facettenreich stattfindet: Musik und Musikunterricht. Mit dem verstärkten Ausbau des Sonderschulwesens in der Bundesrepublik der 70er-Jahre – die Bildungsreform wirkt sich auch auf die Entwicklung des Sonderschulwesens aus – beginnt mit der Ablösung des musischen Ansatzes eine neue Ära der Musik und des Musikunterrichts an Sonderschulen.Die Sonderschulen für Lernbehinderte und Erziehungsschwierige, für Sprach- und Körperbehinderte, für Geistigbehinderte, Blinde und Sehbehinderte, für Schwerhörige, Gehörlose und Kranke sind Institutionen des Erziehungswesens, in der die Kinder unterrichtet werden, die „je nach Art der Schwere ihrer Behinderung nicht oder nur unzureichend in allgemeinen Schulen gefördert werden können“. Erziehung und Förderung von Kindern mit Behinderungen – sind nicht zuletzt Ergebnis der Diskussion um Wertefragen innerhalb der Gesellschaft. Diese berührt ethische und religiöse Überzeugungen, erziehungs- und bildungspolitische Paradigmen, soziologische und ökonomische Aspekte.Wie die Gesellschaft selbst befindet sich auch das Themenfeld „Menschen mit Behinderung“ im Prozess ständiger Veränderung, Umwandlung und Neuakzentuierung. Dies wird zum Beispiel deutlich an den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die schulische Integration von Kindern mit Behinderungen oder auch an der Umbenennung der „Aktion Sorgenkind“ in „Aktion Mensch“. Die Sichtweise von Behinderung ändert sich mit gelungener sozialer Integration: Integration und Entstigmatisierung bedingen sich gegenseitig.
Ein geradezu inflatorischer Gebrauch des Begriffs „Therapie“ lässt sich insbesondere beim Thema Musik und Menschen mit Behinderung feststellen. „Endlich haben wir auch Musiktherapie bei uns“ kann es leicht heißen, wenn eine Musiklehrerin an die Sonderschule kommt. Werner Probst hat freilich längst deutlich gemacht, dass etwa die Tatsache des Instrumentenspiels von Kindern mit Behinderungen keineswegs als Therapie aufzufassen ist (vgl. Probst 1991). Dem diffusen Gebrauch des Begriffs Therapie und der Therapeutisierung der Musik steht heute eine starke Fraktion von Sonderpädagogen gegenüber, die stärker denn je das Konzept der Normalisierung (vgl. Cloerkes 1997, 1999) auch der Sonderschule vertritt. Inhalte, die oft – aus einem Helferimpuls heraus – „therapeutisch“ genannt wurden, finden ihren Platz ebenso in der „ganz normalen“ Förderung durch die Sonderschule. Förderung ist der zentrale Begriff der Sonderpädagogik, unter dem sich das subsumieren lässt, was Lehrerinnen und Lehrer für Kinder mit Behinderungen im Rahmen der Schule tun.
Musik an Sonderschulen
Die Sonderschule als allgemeinbildende Schule orientiert sich in ihrer Musikdidaktik an der Musikdidaktik der Regelschule. Die Aufgabe des Musikunterrichts in Regel- und Sonderschule ist die Einführung der Schülerinnen und Schüler in musikalische Lebenswelten, ist die Vorbereitung auf die kompetente Teilhabe an der Musikkultur. In den Lehrplänen für das Fach Musik an Sonderschulen finden sich bekannte Lernfelder wie Musikhören, Musikmachen, Musik mit der Stimme, Musik und Bewegung... (vgl. Der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen 1980).
Was kennzeichnet die gegenwärtige Situation und Position der Musikdidaktik für Regel- und Sonderschulen? Die 80er- und 90er-Jahre haben – im Vergleich zu den 70er-Jahren – keinen prinzipiell „neuen Wurf“ einer Musikdidaktik gebracht: Wann ist zuletzt eine „große“ Musikdidaktik mit einer neuen Schau von Musikunterricht erschienen? Bestätigt und vertieft haben sich über die beiden Jahrzehnte freilich die Grundsätze der Schülerorientierung und der Handlungsorientierung – und erheblich erweitert hat sich das inhaltliche Themenspektrum: Populäre Musik, aktuelle Musikkultur, interkulturelle Musikerziehung, Neue Musik, Neue Medien. Viele Themen, um deren Wert und Notwendigkeit in früheren Jahren heftig gestritten wurde, werden in Regel- und Sonderschule aufgegriffen. Belegt ist die Behandlung der neuen Themen auch im Musikunterricht der Sonderschule in der Studie „Musik an Sonderschulen in NRW“ (vgl. Merkt 1999). Dokumentationen aus der Unterrichtspraxis in sonderpädagogischen Fachzeitschriften zu Themen wie Musical oder Fernsehmelodien weisen auf die Aktualisierung der Unterrichtsinhalte auch der Sonderschulen für Geistigbehinderte hin (vgl. Schuchhardt 1999, S. 349 ff.).
Einem Fortschritt auf der einen Seite steht meist Kritik auf der anderen Seite gegenüber. Die Kritik am Fach Musik bezieht sich auf den Lern- und Leistungsaspekt: Ein Musikunterricht betont – unausgesprochen – Anteile des Musiklernens im Umgang mit Musik. Lehrerinnen und Lehrer an Sonderschulen – und nicht nur dort – erleben nun in zunehmendem Maße, dass ihre Schülerinnen und Schüler mehr, und zwar sehr viel mehr brauchen als Wissensvermittlung, als Musiklernen. Dieses „sehr viel mehr“ mag heißen Bewegungserfahrung, Vertrauen in den eigenen Ausdruck, Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit und Kommunikationskompetenz (vgl. Amrhein 1993, S. 579 ff.). Die Förderung dieser allgemeinen und auch musikbezogenen Fähigkeiten ist Teil des pädagogischen Aufgabenspektrums in Regel- und Sonderschule. Das „sehr viel mehr“ mag aber auch heißen: Hilfe bei psychischer Auffälligkeit, Schutz bei Missbrauch, Grenzsetzung bei physischer und psychischer Grenzüberschreitung. Hier wird das genuine Feld des Unterrichts verlassen, wird das Feld der Therapie beschritten.
Im besten und engagiertesten Unterricht, im vergnügtesten und motivierendsten Musikunterricht ist die Rollenverteilung klar: Lehrerinnen und Lehrer sind liebevoll, engagiert, kompetent – aber sie sprechen Beurteilungen aus, schreiben Zeugnisse, reden mit den Eltern. Sie dürfen es, es ist Teil ihrer Rolle. Das Wesen einer therapeutischen Beziehung folgt einem anderen Rollenverständnis: Sie ist der „safe place“ des Klienten. In der Therapie – hier sind die humanistischen Therapien gemeint – gibt der Klient Geheimnisse preis: Geheimnisse für die Gründe seines Verhaltens, für die Gründe seiner Gefühle. In der Therapie darf der Klient in einem Schonraum probehandeln. Es werden ihm vielleicht Grenzen gesetzt, aber er wird nicht be- und verurteilt. Der Therapeut macht dem Klienten ein Beziehungs- und Unterstützungsangebot, das wesentlich tiefer geht als dies im Rahmen von Unterricht jemals möglich ist.
Untersucht man anhand der musiktherapeutischen Literatur die konkreten Bedingungen für ein spezifisches musiktherapeutisches Handeln an Sonderschulen, so zeigt sich, dass die Autoren, die gelungene Therapien an Sonderschulen beschreiben, in der Regel Gelegenheit zu Einzelmusiktherapie während der Unterrichtszeit hatten(vgl. u.a. Mahns 1997, S. 22 ff.). Aufgrund ihrer Situation und Position war es ihnen möglich, die oben skizzierte Rolle des Therapeuten zu übernehmen.
Musiktherapie als Einzel- oder Gruppentherapie an der Sonderschule? Ja – aber nur durch externe Therapeuten oder Schultherapeuten, die den Kindern ein ernsthaftes Beziehungsangebot jenseits vom Unterricht machen können. Alle anderen Kombinationen musikpädagogisch-musiktherapeutischer Art: Nein. Dies heißt nicht, dass Lehrerinnen und Lehrer darin beschnitten werden sollten, Kinder mit Behinderungen durch Musik auf vielfältigste Art zu fördern. Allerdings: Die Konzeption des schülerorientierten und handlungsorientierten Musikunterrichts reicht als Begründung für all die unterstützenden Maßnahmen jenseits der unmittelbaren Vermittlung von Unterrichtsinhalten aus. „Schülerorientierte Didaktik fordert, ein Unterrichtskonzept zu verwirklichen, in dem die subjektiven und objektiven Interessen der Schüler in den Mittelpunkt gerückt werden. Dieses Ziel schließt ein, dass die Lehrer sich mit dem von ihnen gestalteten und verantworteten Unterricht identifizieren können“ (Meyer 1987, S. 216) In diesem Sinne: Viel Spaß!
Amrhein, Franz (1993) Bewegungs-, Ausdrucks-, Wahrnehmungs- und Kommunikationsförderung mit Musik. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 44. Jg. H.9 S. 570–589
Cloerkes, Günther (1997) Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. Winter Universitätsverlag C. Winter Heidelberg
Der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen: Richtlinien und Lehrpläne für die Schule für Geistigbehinderte (Sonderschule) in Nordrhein-Westfalen. Köln 1980
Mahns, Beate (1997) Musiktherapie bei verhaltensauffälligen Kindern. Fischer Stuttgart
Merkt, Irmgard, Mitarb. Martin Rohr, Mareike Salden (1999) Musik an Sonderschulen in NRW. Ein Bericht. Meiselbach Dortmund. Abzurufen über http://www.uni-dortmund.de FB13/Musikerziehung/Inhalt.html
Meyer, Hilbert (1987) Unterrichts-Methoden. 1. Theorieband. Scriptor Frankfurt a.M.
Probst, Werner (1991) Instrumentalspiel mit Behinderten. Ein Modellversuch und seine Folgen. Verlag Schott’s Söhne Mainz
Schuchhardt, Anja (1999) Wir gestalten eine Intrumentalbegleitung und einen Tanz zu dem Lied „Wie vom Traum verführt“. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 50. Jg. H. 7 S. 349–357