Leichte Zigarrenwürze liegt in der Luft, schon bevor der Vorhang aufgeht im schmucken Schwetzinger Rokokotheater. Kein Wunder: Im Zentrum des Abends steht ein Werk von Heiner Müller, dem ostdeutschen Dramatiker und Intellektuellen, der sich – wie sein Vorbild Brecht – gerne mit einer Zigarre ablichten ließ. Heiner Müller mit Zigarre in der linken Hand ist fotografisch ungefähr so präsent wie Albert Einstein mit gezückter Zunge. Es ist Müllers Prosatext „Der Vater“ von 1958, den sich der Schweizer Komponist Michael Jarrell vorgenommen hat, um ihn in ein „Théatre Musical“ zu überführen, das bei den Schwetzinger SWR Festspielen seine am Ende umjubelte Uraufführung erlebte.
Der Qualm der Zigarre, die im Aschenbecher auf dem Arbeitstisch des Protagonisten langsam verglüht, verflüchtigt sich schnell auf den Schwetzinger Brettern, die die Welt bedeuten. Und damit auch ein wenig Müller und sein kühler Intellektualismus. Denn sein Text wird auf französisch rezitiert, was dem distanziert berichtenden, lakonischen Erzählstil eine ungewöhnliche Weichheit und Musikalität verleiht. Jarrell hat sich bei der Vertonung nicht am opernhaften Musiktheater orientiert, das die Worte singen lässt und mit Orchester arbeitet, sondern am Melodram, in dem Texte gesprochen und mit Musik unterlegt werden – ein Genre, das sich besonders im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute.
Anders als seine düsteren, geschichtsdialektischen Dramen erzählt Müllers „Der Vater“ eine fassliche, anrührende Geschichte, die zum Teil wohl autobiographisch inspiriert ist: Es ist die Geschichte eines traumatisierten Kindes. Berichtet wird in Episoden, aus der Sicht des erwachsenen Mannes, der die beständige Abwesenheit seines mittlerweile verstorbenen Vaters betrauert und zu verarbeiten sucht. Der Erzähler erinnert sich, wie er als kleiner Junge erleben musste, wie sein Vater 1933 von der SA verhaftet und in ein Konzentrationslager verschleppt wurde. Oder wie er mit der Mutter den Vater im Gefangenenlager besuchte. Aber auch nach seiner Entlassung bleibt der Vater dem Leben seines Sohnes fern. Der zentrale Satz des Abend ist, ohne dass er Larmoyanz verströmte: „Ein toter Vater wäre vielleicht ein besserer Vater gewesen. Am besten ist ein totgeborener Vater“.
Gilles Privat als spielender Rezitator spricht den Text wohlstrukturiert, rhythmisiert und zum Glück ohne Pathos. Jarrells Musik baut auf die attraktiven, äußerst vielfältigen klanglichen Möglichkeiten von Perkussionsinstrumenten: sechs Schlagzeuger des Ensembles „Les Percussions de Strasbourg“ sind daran beteiligt, eine rhythmisch raffiniert konzipierte Klangkulisse aufzubauen, der es dank ihrer Abstraktheit, ihrer beat- und groovefreien Unbestimmtheit formidabel gelingt, Stimmungen des Textes zu transportieren und Emotionen hervorzurufen: durch unheilvolle Verdichtungen, brutale Verhärtungen oder klangsinnliche Entspannung bis zum Sphärischen, ohne sich oder den Text jemals dem Pathos auszuliefern. Der Klangkosmos der zahlreichen Schlaginstrumente wird nur durch gelegentliche elektronische Zuspielungen und drei instrumental inspirierte, meist in bedächtigem Tempo geführte Frauenstimmen ergänzt (Susanne Leitz-Lorey, Raminta Babickaite, Truike van der Poel von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart).
Die Inszenierung von André Wilms ist schlicht und sachgerecht (Bühnenbild und Kostüme: Adriane Westerbarkey), arbeitet mit Leuchtschriften, Projektionen, Videoeinspielungen. Tendenziell illustrativ wirkt auch das stumme Bühnen-Personal, das gelegentlich durch die dezent ausgestattete Kulisse schleicht und auch mal tanzt: Ein kleiner Junge, eine Dame in weißem Brautkleid und knallroten Boxhandschuhen, ein Mann mit Hut und einem Gartenzwerg unter dem Arm. Und auch der große, braune Bär scheint einer fernen Traumwelt entstiegen zu sein.