„Aus meiner Sicht hat es so was wie die Zauberflöte im Opernbereich noch nie gegeben“, ist sich Philip Bröking sicher. Wenige Stunden vor der Premiere von Mozarts Zauberflöte auf der neuen Bühne des Moskauer Bolschoi-Theaters macht es sich der Operndirektor der Komischen Oper Berlin auf dem Polstersessel des edlen Moskauer Hotels Metropol bequem.
Moskau ist bereits die 16. Stadt, in der diese Inszenierung gezeigt wird. Nach Stationen wie Düsseldorf, Barcelona oder Los Angeles – und natürlich Berlin. Die Zahlen sind beeindruckend: Sage und schreibe 355 Aufführungen hat es bisher gegeben, seit Intendant und Chefregisseur Barrie Kosky die Zauberflöte in seiner ersten Berliner Spielzeit inszenierte. Das war im Jahre 2012, als die Komische Oper auch gleich zum Opernhaus des Jahres gewählt wurde. Von den 355 Aufführungen fanden aber nur 80 in Berlin statt, die anderen in der großen weiten Welt. Und jetzt eben in Moskau, als Eröffnungsvorstellung des traditionsreichen Chekhov-Festivals. „Wir sind eher zufällig in den Erfolg gestolpert“, sagt Operndirektor Bröking im Gespräch. Barrie Kosky hat diese Inszenierung für Berlin erfunden und kein Mensch dachte damals daran, mit ihr um die Welt zu touren. Und damit Ruhm und Einnahmen der Komischen Oper zu mehren. Doch schon in der Pause der Premiere sei der erste Intendant gekommen, in dem Fall Christoph Meyer aus Düsseldorf, und hätte gesagt, dass er diese Inszenierung unbedingt haben wolle, so Bröking.
Wie ist der Erfolg zu erklären? Wäre das ein Modell für eine internationale Vermarktungsstrategie von Opernproduktionen? Und könnten sich so auf Dauer zusätzliche Einnahmen generieren lassen, mit denen die chronisch klammen Opernhäuser ihre Kassenlage aufbessern?
Wer Koskys Inszenierung kennt, wird daran seine Zweifel haben. Hier ist fast alles anders als im Opernalltag eines normalen Stadttheaters. Auch anders als im Opernalltag der Komischen Oper selbst. Wo sonst Sarastros Tempel und Papagenos Natur-Idylle in Form von schwerem Gerät über die Bühne geschoben werden, flimmert es hier in den schönsten Farben und Formen. Rote Herzen schweben über die Bühne, Blüten verwandeln sich in Pamina und Tamino, die Königin der Nacht greift drohend mit riesenhaften Krakenbeinen nach dem Liebesglück. Die Zauberflöte als Monty Python-Spektakel in der dunkel-schimmernden Bil-derwelt des Expressionismus. Die genial animierten Bilder stammen von der englischen Künstlergruppe „1927“.
Alles, was es hierzu braucht, ist ein starker Lichtprojektor und eine Projektionswand. Und die lassen sich relativ leicht samt der Kostüme in drei Großcontainer packen und an jeden beliebigen Ort dieser Welt transportieren. Und wo das – wie in Los Angeles – noch zu mühsam und zu kostenaufwendig scheint, werden Bühnenwand und Kostüme nachgebaut und nachgeschneidert.
Verglichen mit den opulenten Japan-Gastspielen der Bayerischen Staatsoper ist die Komische Oper also mit leichtem Gepäck nach Moskau gereist. Neben der Dekoration sind das noch 164 Sänger, Orchestermusiker und Choristen und 4 Mitarbeiter aus dem Opernmanagement.
Unternehmerische Flexibilität
Die Fachleute sprechen im Fall des Moskauer Gastspiels von einem „Gesamtgastspiel“, weil neben der Dekoration das gesamte Ensemble inklusive Orchester und Chor mitreist. Aber es geht auch anders: Denn die Komische Oper zeigt bei der Vermarktung ihrer Zauberflöte durchaus unternehmerische Flexibilität. Auch als sogenanntes Teilgastspiel ist sie zu haben. Wie etwa in Barcelona, wo neben Projektionswand und Kostümen nur das Sängerensemble der Komischen Oper anreiste. Orchester und Chor stellte das Liceu. Und dann noch der Lizenzverkauf wie in Los Angeles, wo man Bühnenbild und Kostüme auf Lizenzbasis herstellte. Alle Mitwirkenden waren „Locals“. Und noch eine Variante: Im Auftrag der Oper Helsinki fertigten die Berliner in ihren Werkstätten Projektionswand und Kostüme und verkauften sie „mit Gewinn“, wie Operndirektor Bröking sagt.
Keine Frage, die Zauberflöte in dieser speziellen Inszenierung ist für internationale Gastspiele kompatibel – und damit als Sonderfall nicht ohne Weiteres auf den Opernalltag zu übertragen.
Spezialfall Zauberflöte
Abgesehen davon, dass sie bis heute ein vielgespielter Opern-Hit ist, kann ihre Orchesterpartitur auch von einem relativ kleinen Orchesterensemble aufgeführt werden. Auch Orchester weit unter dem Niveau von Berliner oder Wiener Philharmonikern können damit noch glänzen; denn so halsbrecherisch manches klingt, allzu schwer ist die Partitur nicht zu realisieren.
Ähnliches gilt für die technisch nicht überaus anspruchsvolle Chorpartie, die im Bedarfsfall auch in kleiner Besetzung noch Wirkung entfaltet. Weil der Chor der Komischen Oper nicht überall gleichzeitig sein kann und zu Hause in Berlin ja auch noch eine Bühne bespielt werden muss, hat die Komische Oper daher neben ihrem Opernchor noch zwei weitere Chöre im Köcher: das Vokalconsort aus Berlin und den Arnold Schönberg Chor in Wien.
Aber egal ob Gesamtgastspiel, Teilgastspiel oder Lizenzvergabe: Am Ende hängt die Komische Oper als Marke immer drin. Daher reden die Berliner Operngewaltigen auch bei jeder Aufführung „ihrer“ Zauberflöte mit. Das beginnt mit der Auswahl der Sängerdarsteller. Sie sollen nicht nur singen können, sondern auch durch die schmalen Drehtüren der Projektionswand passen. Und sie sollten keine Höhenangst haben. Auch nicht die Königin der Nacht, wenn sie fest angeschnallt auf dem schmalem Podest stehend von der Wand herab ihre halsbrecherischen Koloraturen hinunter schleudert. Daneben schickt die Komische Oper Kostümassistenten, Bühnenassistenten und Regieassistenten, die vor Ort die Einstudierung übernehmen. In der letzten Woche kommt dann – wenn es der Terminkalender zulässt - Intendant und Regisseur Barrie Kosky höchstpersönlich dazu und „pustet nochmal in die Glut, damit die Flamme der Zauberflöte hochschlägt“, so Operndirektor Bröking.
Finanzieller Ertrag
Finanziell hat sich der „Run“ auf die Zauberflöte längst ausgezahlt. Seit 2012 ist so viel zusammengekommen, dass damit vier Neuproduktionen finanziert werden konnten. Und bei Gesamtgastspielen achtet die Komische Oper darauf, dass pro Vorstellung als Ertrag mindestens eine Summe steht, die vergleichbar ist mit den Einnahmen einer ausverkauften Vorstellung in Berlin. Außerdem verspricht man sich in Berlin auch Vorteile für den heimischen Vorstellungsverkauf. Schon heute gehen 10 bis 15 Prozent der Karten an Touristen aus dem Ausland. Das sollen demnächst noch mehr werden.
Dennoch: Das Management der Komischen Oper nimmt den überraschenden Erfolg der Zauberflöte nicht als Aufforderung, die internationale Vermarktung künftiger Operninszenierungen gleich von Beginn an mitzudenken. Zu komplex, zu teuer seien Opernproduktionen, als dass sie regelhaft auf Tournee gehen könnten. Das, was Hamburg mit Tom Waits „The Black Rider“ in der Robert Wilson-Inszenierung vormachte, sei eben auch nicht Oper, sondern Musical im leicht organisierbaren Stagione-Betrieb. Also keine eigene Abteilung für internationale Vermarktung bei der Komischen Oper, wie sie etwa die Berliner Schaubühne hat. Was nicht ausschließt, dass sich irgendwann einmal andere Opernhäuser an diesem Geschäftsmodell ausprobieren.
Mit der Berliner Zauberflöte geht es freilich weiter. Eine große Japan-Tournee steht auf dem Programm, und in den USA stehen mit Cincinnati und Philadelphia weitere Lizenznehmer fest. Ende offen.
Moskauer Publikum uneinig
Doch wie verhält es sich mit dem künstlerischen Ertrag? Bei ihrer Berliner Premiere stieß die Inszenierung von Barrie Kosky auf unterschiedliches Echo: Hier helle Begeisterung über die neuartige Opernbildersprache, dort das kritische Wort von der „Zeichentrickoper“, die aus den Sängern Marionetten mache.
Und wie war es in Moskau? Skeptische Blicke und verschränkte Arme sah man anfangs vor allem bei älteren Besuchern. Aber immer wieder Schmunzeln und Kichern im Publikum bei den vielen Gags. Da sind etwa die komischen Sprünge des Katers, den Papageno immer im Schlepptau hat. Den größten Lacher gibt es, als Papageno sich mit krachendem „Kabum“ umbringen will und dann aus dem Pulverdampf heraus zum Liebesduett mit Papagena ansetzt. Dieses „Kabum“ ist ohrenbetäubend und zieht sich wie im Comic als knalliges Schriftband quer über die Projektionswand.
Beim Gespräch wird schnell klar: Das Premierenpublikum im Moskauer Bolschoi Theater ist kenntnisreich, kann es mit dem Berliner Publikum locker aufnehmen. Die Ansichten sind geteilt: Eine jüngere Frau, sie nennt sich Elena, ist skeptisch: Die Inszenierung lenke ab von den guten Stimmen, von denen die Königin der Nacht vermutlich die beste sei (Christina Poulitsi). Ein anderer Zuschauer ist angetan, dass Regisseur Kosky in seiner Inszenierung die Stilistik des Expressionismus in seinen Bildern durchgehalten habe. Auch andere freuen sich an der Bildsprache, sehen aber wenig interpretatorische Tiefe hin zur eigentlichen Substanz der Zauberflöte.
Auffallend ist, dass die Aufführung gegenüber der Generalprobe vom Vortag an Spannung verliert. Vielleicht ist das eine Formfrage, oder liegt eben doch im Wesen der cineastischen Repetitionsmechanik, die wenig Raum für Veränderung und Entwicklung lässt.
Drei Aufführungen geben die Berliner insgesamt. Alle sind sie ausverkauft. Für Intendant und Regisseur Barrie Kosky ist Moskau derweil nur ein kurzes Gastspiel. Er fliegt nur Stunden vor der Premiere ein und lässt sich wenig später auf der Bühne feiern – gemeinsam mit den Sängern und Dirigent Gabriel Feltz. Zehn Minuten Beifall wären gut für Moskau, sagt die opernerfahre Elena. Am Ende werden es sechs Minuten.