Banner Full-Size

Fit for Job oder: Das Ende Ästhetischer Erziehung?

Untertitel
Zur Sendereihe des Bayerischen Rundfunks „Ästhetische Erziehung“ · Von Jürgen Vogt
Publikationsdatum
Body

Der Musik als Schulfach geht es nicht gut. Greift man auf Umfragen und Wahlverhalten zurück, so steht der Musikunterricht nicht gerade in der Gunst der Schüler. Das Burn-Out-Syndrom ist unter Musiklehrern verbreitet. Und wenn man weniger den Sonntagsreden der Politiker glaubt als ihren Erlassen, so gehört Musik zu denjenigen Fächern, die einer Neustrukturierung des Fächerkanons auf die eine oder andere Weise zum Opfer fallen werden. Schon aus diesen Gründen sollte man sich eigentlich freuen, wenn auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Argumente vorgebracht werden, die für den Erhalt oder sogar für den Ausbau des Schulfaches Musik eingesetzt werden können. Eine solche Argumentationshilfe verspricht die Reihe „Ästhetische Erziehung“ von S. Reeh, die der Bayerische Rundfunk vom 17. September an ausstrahlt und durch ein Paket von Videokassetten und Begleitbuch multimedial ergänzt.

Diese Vorfreude wird allerdings bereits durch die Pressemitteilung getrübt: In der Ästhetischen Erziehung – gemeint sind Musik-, Kunst-, Theater-, Tanz- und Medienpädagogik –, so liest man, gehe es um die Vorbereitung auf die sozio-ökonomischen Anforderungen des 21. Jahrhunderts. Angesprochen werden dann allerdings nur noch die ökonomischen Anforderungen, genauer: die für das Management mittlerer Ebene geforderten Sekundärtugenden wie „Verantwortungsbewusstsein, Disziplin, Flexibilität, Belastbarkeit, Sozialkompetenz und Leistungsbereitschaft“ (Pressemitteilung). Zudem sollen Kinder mit Hilfe der Ästhetischen Erziehung „schneller und effizienter lernen“.

Von einem Eigensinn der Ästhetischen Erziehung ist also nicht die Rede, wohl aber von einem ganzen Bündel von Transferwirkungen, die sie nach sich ziehen soll. Der erste Teil, der sich der Musikpädagogik widmete, bestätigte leider diese Vorahnung. Musikunterricht, so hört man, ist ein Trainingscamp, in dem man lernt, sich in der Gesellschaft von morgen zu behaupten. O-Ton:

„Nur wer fachübergreifend und vernetzt denken kann, wer schnell und flexibel ist, wird auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft erfolgreich sein“.

Dieses Credo durchzieht dann auch den gesamten Beitrag. Zwar erfährt man kaum etwas über musikdidaktische Konzeptionen, wohl aber wird der Zuschauer mit Worthülsen wie „Kreativität“, „Innovation“, „Ganzheitlichkeit“ und „Vernetzung“ traktiert, als gewännen diese Vokabeln durch fortwährende Wiederholung an Inhalt. Worin der musikpädagogische Zugewinn der gezeigten Beispiele aus Deutschland und der Schweiz liegen soll, bleibt leider ebenfalls unklar. Als Schreckgespenst wird ein Bild von Schule aufgebaut, in der per Frontalunterricht stumpfsinnig Fakten eingepaukt werden. Gegen diesen Popanz wird dann das übliche Arsenal reformpädagogischer Begriffe aufgefahren, das mindestens seit 100 Jahren bekannt ist. Dass der Mensch mit Kopf, Herz und Hand (also „ganzheitlich“) lernen solle, forderte schon Pestalozzi, und dass der Projektunterricht („fächerübergreifend“) eine neue (musik)pädagogische Errungenschaft sei, wird man kaum behaupten können. Auch um neue musikalische Inhalte und Gegenstände geht es offensichtlich nicht, denn von diesen ist gar nicht die Rede. Im Zentrum des Beitrags stehen einzig und allein Sekundärtugenden, die man mit einigem Wohlwollen auch als Schlüsselkompetenzen identifizieren könnte, die in ein Konzept formaler Bildung eingebettet sind. Das altmodische Wort „Bildung“ mag aber niemand mehr so recht in den Mund nehmen, wenn es doch um neuronale Vernetzungen im Gehirn geht, und als zusätzliches Bonbon winkt den Schülern schließlich – ärztlich beglaubigt – ein stabileres Immunsystem durch Musikunterricht.

Ein Hauch von Bildung wird aber doch eingeklagt. Im Musikunterricht, wie auch in den anderen ästhetischen Fächern, gehe es letztendlich darum, zur „geistigen und moralischen Eigenständigkeit anzuleiten“ und dem menschlichen Bedürfnis zu entsprechen, sich „individuell zu entfalten und auszudrücken“. Diese Bildungsprogrammatik – und dies ist das eigentlich Bedenkliche – steht aber im krassen Gegensatz zur Stoßrichtung des Gesamtbeitrags. Von Eigenständigkeit, Ausdrucksfähigkeit und Individualität ist ansonsten nämlich nicht viel die Rede. Ganz im Gegenteil: Die Fähigkeit zum „Einordnen in eine Gemeinschaft“, ist, wie ein Lehrer formuliert, eine der zentralen Sekundärtugenden, die durch Musikunterricht gefördert werden soll. „Gerät auch nur ein Kind aus dem Takt, bricht das ganze System zusammen“ – dies ist die Lektion aus einem Kreisspiel. Und an anderer Stelle. „Es zählt nicht die Einzelleistung, sondern das im Team Erarbeitete“ – dies als Ertrag des Projektunterrichts.
Ziel des Musikunterrichts ist also gerade nicht das eigenständige, im klassischen Sinne „gebildete“ Individuum, sondern der ein- und unterordnungswillige Teamarbeiter. Dieser ist aber keineswegs ein Individuum, sondern jemand, dessen Biografie nur noch ein von ökonomischem Wandel bestimmtes Stückwerk ist. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett beklagt in seiner 1998 erschienenen Studie „Der flexible Mensch“ gerade die „Korrosion des Charakters“ (so der amerikanische Originaltitel) als Resultat des zeitgenössischen „flexiblen Kapitalismus‘“.

Zu Sennetts desillusionierenden Befunden gehört auch, dass die Teamarbeit nur eine „Maske der Kooperativität“ darstellt; eine Fiktion, die Eigenverantwortlichkeit und Kommunikation vorgaukelt, aber letztlich dazu dient, die tatsächlich vorhandenen Machtstrukturen innerhalb von Unternehmen „unlesbar“ zu machen und die Zuschreibung von Verantwortlichkeiten zu erschweren. Entscheidend ist aber vor allem, dass Arbeitnehmer über „tragbare Fähigkeiten“ verfügen müssen, also abstrakte, vielseitig einsetzbare Kompetenzen, die nicht auf ein Berufsbild, eine Karriere, einen sozialen Status festgelegt werden können. Der „flexible Mensch“ ist disponibel und kann daher, so Sennett, gar keinen „Charakter“ im althergebrachten Sinne ausbilden. Veränderbarkeit und Lernfähigkeit, die auch im Konzept der „Bildung“ stecken, verwandeln sich in beliebige Formbarkeit und kritiklose Verfügbarkeit.

„Das klingende Klassenzimmer“ singt das hohe Lied dieser Formbarkeit, und dies ausgerechnet im Namen der Ästhetischen Erziehung. Zwar weist die Autorin darauf hin, dass unser Wissen ohnehin im Eiltempo seine Gültigkeit verliert, aber ein Rückgriff auf die Tradition der Ästhetischen Erziehung sei dennoch erlaubt. Vor mehr als 200 Jahren entwarf Friedrich Schiller das Programm einer „Ästhetischen Erziehung“, in dem eine weit gefasste ästhetische Erziehung die Menschen von den negativen Folgen des Rationalismus und der aufkommenden Industrialisierung kurieren sollte. Der vielzitierte Satz Schillers, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spiele, ist ja nichts anderes als die Klage darüber, dass der Mensch in anderen Arbeitszusammenhängen eben nicht „ganz Mensch“ ist. Man mag gegen die Idee einer solchen ästhetischen Kur mancherlei einwenden, doch ist Schillers Utopie meilenweit entfernt von der Funktionalisierung der Ästhetischen Erziehung für die schöne neue Arbeitswelt. Ästhetische Erziehung ist, wie es der Pädagoge K. Mollenhauer einmal formuliert hat, immer auch ein pädagogisches „Sperrgut“, da in ihr Erfahrungen vermittelt werden können, die sich eben nicht nahtlos in den Alltag der Warenproduktion und -konsumption eingliedern lassen. Wo, wenn nicht in der allgemein bildenden Schule, könnte die Erfahrung vermittelt werden, dass dieser Alltag auch ganz anders sein könnte? Diese Idee ist aber offensichtlich so abwegig geworden, dass sie nicht einmal mehr erwähnt wird. Der „eindimensionale Mensch“ (Marcuse) erhält auch die zu ihm passende „eindimensionale Musikpädagogik“.

Die Forderung der Autorin, das Bildungssystem müsse auf gesellschaftliche, sprich: ökonomische Veränderungen reagieren, zeugt darüber hinaus von einem merkwürdigen Verständnis vom Auftrag der allgemein bildenden Schule. Die allgemein bildende Schule ist eine Institution der Gesellschaft, sie ist kein Trainingscamp der Wirtschaft, das überdies mit Steuermitteln finanziert wird. Wenn die Wirtschaft, als Teil der Gesellschaft, mit einer partiellen Berechtigung an die Schule bestimmte Anforderungen stellt, so müsste umgekehrt die Frage erlaubt sein, was die Wirtschaft eigentlich für die Schule tut, außer per Werbung und Product-Placement künftige Konsumenten heranzuziehen. Eigentlich dürfte sich niemand wundern, wenn Jugendliche als angehende Arbeitnehmer konsum- und freizeitorientiert, und keineswegs teamfähig, diszipliniert, belastbar und leistungsbereit sind, denn genau das ist das Ideal, das die Werbung vermittelt. Die Wirtschaft predigt Wein – das Schlaraffenland des ungebremsten Konsums – und trinkt das Wasser der Arbeitsaskese. Hier soll dann ausgerechnet die Schule korrigierend eingreifen und die Schüler „fit for Job“ machen.

Ach ja – irgendwann sagte eine Schülerin: „Musik braucht man einfach, weil, es ist halt so schön“. Darüber hätte man gerne mehr erfahren.

Jürgen Vogt

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!