Im März 1993, beim 1. Kurt-Weill-Fest in Dessau, oder ein halbes Jahr später, bei der Gründung der Kurt-Weill-Gesellschaft Dessau e.V., hätte wohl niemand erwartet, das aus dem gewagten Projekt im gebeutelten Osten einmal eine feste und etablierte Größe in der deutschen Festival-Landschaft werden würde. Und nicht anders als seine Vorgänger lohnte auch das diesjährige Programm unter dem Motto „Vom Lied zum Song“ den Besuch. Doch obwohl der Besucherrekord des Vorjahres mit über 16.500 Besuchern leicht überboten wurde, müsste die Kurt-Weill-Gesellschaft eigentlich ins Grübeln geraten.
Misst man nämlich das Programm am satzungsgemäßen Anspruch der Erforschung, Erschließung und Verbreitung des Werkes, so zeigt sich immer wieder, dass der Songkomponist Weill an allen Ecken und Enden präsent ist, der Bühnenkomponist Weill aber nach wie vor ein Schattendasein führt. Mit „Royal Palace“, dem „Mahagonny-Songspiel“, der „Dreigroschenoper“ und dem Musical „Johnny Johnson“ gab es zwar vier Musiktheater-Werke des in Dessau geborenen Komponisten zu hören, aber allesamt in konzertanten, bestenfalls halbszenischen Gastspielen und jeweils nur einmal. Wer den Eröffnungsabend mit Weills erstem amerikanischen Musical verpasst hatte, hatte schlicht Pech. Das Anhaltische Theater, das eine Vorreiterrolle hätte spielen können, beschränkte sich auf eine inhaltlich schwachbrüs-tige, tänzerisch durchwachsene, aber musikalisch fesselnde Ballettproduktion zu Werken von Kurt Weill, Paul Hindemith und Arnold Schönberg.
Dass die Beziehungen zwischen der Weill-Gesellschaft und der scheidenden Theater-Intendanz getrübt sind, ist kein Geheimnis mehr, auch wenn beide Seiten den Sachverhalt nicht breittreten. Festival-Intendant Michael Kaufmann und Thomas Markworth an der Spitze der Weill-Gesellschaft einerseits, Theater-Intendant André Bücker andererseits sind höchst unterschiedliche Temperamente, und dies zeigt sich auch im hier konzilianten, da schroffen Umgang mit den Sparforderungen der in kulturpolitischen Fragen wenig kompetenten Landesregierung. Die unterschiedliche Haltung erklärt sich aber auch dadurch, dass das Theater in der Stadt als Bau und Institution prägend dasteht, während der fragile Bau des Festivals alljährlich neu errichtet werden muss. Zudem scheint es unterschiedliche Wahrnehmungen der Situation in Stadt, Land, Gesellschaft und Zivilisation zu geben – nicht anders als in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung überhaupt. Wo der eine noch entspannte Normalität sieht, nimmt der andere schon krisenhafte Zuspitzung wahr. Und das schließlich war schon in den 1920er-Jahren so: Wo der eine musizieren will, will der andere – eingreifen. Weill indessen wollte beides: „Dieses Vermögen der Kunst, auch politische Ideen des Tages in einen Rahmen zu fassen, sie zu konzentrieren und aufzubewahren, scheint mir ihre schönste Stärke“, gab er im Dezember 1930 zu Protokoll und praktizierte es selbst – bis zu seinem letzten Werk „Lost in the Stars“, der „musical tragedy“ über das Problem der „Rassentrennung“.
Wer den Komponisten Weill auf die kleine Form reduziert, verfälscht ihn. Das Dessauer Weill-Fest tat es nicht, wenn man genauer hinhörte. Cornelia Froboess, die engagierte Artist-in-Residence, stellte Weills Songs in immer neue Kontexte. Was Katharina Thal-bach mit tiefer Reibeisenstimme sang und deklamierte, war Teil eines bewegenden autobiographischen Rückblicks und ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Theater. Nicht viel anders war es beim Schritt zurück zu Weills musikalischen Wurzeln im 19. Jahrhundert. Wilhelm Müller, der Dessauer Autor, den wir fast nur durch Schuberts „Schöne Müllerin“ und „Winterreise“ kennen, lässt in Texten und Lieder wieder und wieder den Geist des Vormärz aufblitzen. Der Bariton Wolfgang Holzmair und sein hellwacher Klavierbegleiter Siegfried Mauser kombinierten Schubert-Lieder mit kontrastierenden oder geistesverwandten Nummern aus Ernst Kreneks „Reisebuch aus den österreichischen Alpen“. Und selbst der ausgezeichnete junge Oboist Juri Schmahl sprengte den Rahmen seines Programms aus Liedern und Romanzen am Ende mit einem Konzert des italienischen Opernvirtuosen Antonio Pasculli über Motive aus Donizettis Oper „La favorita“. Was dem Dessauer Weill-Fest aber abgeht, ist eine Dramaturgie, die der guten Organisation und der geistreichen Programmzusammenstellung das Wasser reicht. Immer wieder beschränken sich Programmheft-Texte auf grobe lexikalische Einordnung oder werbeprospektähnliche Floskeln. Kaum jemals verstehen sie sich als Einladung zum Hören, Wahrnehmen und Begreifen. Besonders ärgerlich ist es, wenn Texte von wenig bekannter Vokalmusik nicht abgedruckt sind – wie beim Gastspiel der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Ernst Theis. Obwohl der Bariton Paul Armin Edelmann Richard Strauss’ Notturno op. 44 Nr. 1 mit vorbildlicher Deutlichkeit und enormer Spannkraft sang, hatte der Hörer dank des langsamen Tempos am Zeilenende den Anfang schon wieder vergessen. Weills früher Einakter „Royal Palace“ bleibt ganz unverständlich ohne die Lektüre von Iwan Golls kurzem surrealistischen Libretto.
Nicht nur die Idee, diesen bewuss-ten Abgesang Weills auf das 19. Jahrhundert mit Musik aus Richard Strauss’ „Capriccio“ und „Der Bürger als Edelmann“, zwei mehr oder weniger eskapistischen Ausflügen „in die gute alte Zeit“ zu kombinieren, ist gewagt. Überhaupt verlangt es ein weites Herz, im Abschlusskonzert den Emigranten Weill mit dem politischen Opportunisten Strauss zusammenzubringen, oder eben eine beträchtliche Fähigkeit, Gegensätze zusammenzudenken. Das Programmheft überbrückt diesen Spagat leichthin mit einer Bemerkung Weills von 1924 über Strauss‘ „reines, unbeschwertes Musizieren“. Acht Jahre später, in seinem Stück „Der Silbersee“, hatte Weill für verzuckerte Walzerseligkeit ein ironisches Duett übrig: „Wie mit den Menschen ist es mit der Preisgestaltung, mehr als der inn’re Wert zählt oft die äuß’re Haltung. Du selbst kriechst schon auf allen vieren? Nur die Haltung darfst du nicht verlieren!“ – Doch beim Weill-Fest 2015 behält der Haushofmeister aus „Capriccio“ das letzte Wort: „Frau Gräfin, das Souper ist serviert!“ Da darf man schon fragen, auf welche Art von Appetit man in Dessau künftig zielt.