Auf so eine wagemutige Idee muss man erstmal kommen: Zwei sinfonische Schwergewichte mit einem Nachwuchsorchester ohne Dirigenten aufzuführen. Aber die Bratscherin Tabea Zimmermann und das Bundesjugendorchester zeigen bei ihrer Ostertournee durch Deutschland, dass dieses Risiko belohnt wird.
Als Erste unter Gleichen sitzt Zimmermann im Orchester und leitet vom ersten Bratschenpult aus Ludwig van Beethovens sechste Sinfonie. Auf die Frage nach dem Grund für dieses künstlerische Experiment meint Tabea Zimmermann: „Es ist mein absoluter Traum, Sinfonisches wie Kammermusik im Großen zu musizieren. Ich habe das in meinem ganzen Leben immer gesucht. Mein Anspruch ist, dass wir aufeinander vertrauen, voraushören, vorausatmen, den eigenen Ton bewusst gestalten und in Zusammenhang mit einer weiter weg sitzenden Stimme setzen. Deshalb begebe ich mich mit den Jugendlichen auf eine intensive Suche nach den roten Fäden innerhalb der beiden Werke. Ein solches Experiment braucht Zeit – und beim Bundesjugendorchester haben wir den großen Luxus, uns viel davon nehmen zu können.“ Beim Konzert im Ludwigsburger Forum am Schlosspark ist genau das zu erleben und man kann gut beobachten, wie homogen das Orchester agiert. Eng sitzen die Instrumentalisten beieinander, man kommuniziert mit Blicken und reagiert feinfühlig aufeinander. Vielleicht fehlt das eine oder andere Mal die Routine, die man bei einem professionellen Ensemble erwarten würde. Aber das ist nebensächlich angesichts der stimmigen Gesamtleistung. Unter den jungen Musikern werden die Herausforderungen einer solchen Arbeitsweise reflektiert. So meint etwa der Kontrabassist Reinhold Wandel: „Das ist eine große Challenge. Man muss als Orchester viel besser zusammenarbeiten und wächst richtig zusammen.“ Eine ähnliche Wahrnehmung hat auch der Leitungsstab. Sönke Lentz, Orchesterdirektor des BJO, zeigt sich im Gespräch am Rande des Ludwigsburger Konzertes glücklich, wenn er von der CD-Aufnahme spricht, die in den Tagen davor in Köln realisiert wurde, als er gespürt habe, dass das „ein Erfolg werden“ könnte, gerade weil das keine Selbstverständlichkeit sei: „Die Jugendlichen haben Kammermusikerfahrung, aber eben noch nicht so intensiv wie Ältere. Und gerade das Musikzieren in großen Kammermusikformationen oder Kammerorchestern ohne Dirigent ist vielen noch unbekannt. Erst im fortgeschrittenen Probenprozess und natürlich mit den Erfolgen der Konzerte konnten auch diejenigen überzeugt werden, die noch Bedenken vor der großen Aufgabe hatten. An Willen und Motivation mangelte es nicht.“ Eine interessante Mischung aus Eigeninitiative und Ensemblegeist prägt auch die Sinfonie „Harold en Italie“ von Hector Berlioz. Es ist eine der Stärken des BJO, die programmatischen Szenerien dieses formal eigenwilligen Werkes überzeugend zu gestalten, etwa das transparent wirkende Abendgebet der Pilger im zweiten Satz. Die Beweglichkeit des BJO, der schnelle Wechsel zwischen unterschiedlichen Ausdrucksformen funktioniert auch ohne Dirigenten, obwohl das gerade hier besonders heikel ist. Tabea Zimmermann ist voll des Lobes für ihre Schützlinge: „Im Bundesjugendorchester ist man in einer Gruppe von Hochbegabten, einer hoch motivierten Gruppe von jungen Menschen, die sich selber, die Kollegen und mich ordentlich fordern, weil sie einfach Höchstleistung bringen wollen. Was ist anders, weil kein Dirigent da ist? Wir mussten wie ein Gewebe alle Stimmen miteinander verzahnen und in erster Linie nach dem Ohr musizieren. Das ist ein ganz anderer Vorgang, der viel Konzentration und ständiges Wachbleiben abverlangt. Es ist eine Grenzerfahrung: eine von der Masse der Mitwirkenden, der Stimmen, der Partitur, der Aktionen und der Entfernungen auf der Bühne, eine ganz große Nummer, in der auch ein Risiko steckt.“
Manchmal wird das Risiko belohnt. Im Fall der aktuellen BJO-Arbeitsphase gilt das sowohl für die Mitwirkenden als auch für die Zuhörer. Kein Wunder also, dass Sönke Lentz optimistisch in die Zukunft blickt: „Das Format hat sich absolut bewährt und wird sicherlich wiederholt werden.“