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Albert Huybrechts am Piano. Fotos: privat
Albert Huybrechts am Piano. Fotos: privat
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Große Kammermusik mit „Dies irae“

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Die Entdeckung des belgischen Meisters Albert Huybrechts
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Dass die Geschichte eine Anhäufung von Legenden ist, die von den Siegern geschrieben wurden, wissen zwar die meisten, doch scheint es auch viel zu anstrengend, daran zu glauben, dass sie „umgeschrieben“ werden könnte. Dies kann nur durch stetiges Tun und das Zusammentreffen der rechten Umstände zur rechten Zeit am rechten Ort geschehen.

Vor einigen Jahren wussten die wenigsten, wer „Moisei Vainberg“ war (so die lange gebräuchliche Übersetzung aus dem Russischen), heute wird er mit seinem polnischen Namen Mieczyslaw Weinberg als die große Entdeckung gefeiert, die sich aus dem mächtigen Schatten Schostakowitschs hervorhebt – und dies ist noch lange kein zureichender Grund, dass der Name des eminentesten Vertreters der nächsten Generation russischer Symphoniker, Boris Tishchenko, westlichen Hörern im Zuge dessen irgendwie auch ein geläufiger Name würde.
Nun ja, die Sowjetunion hatte ja auch eine stattliche Phalanx großer Komponisten, von Prokofieff, Chat­schaturian, Glière oder dem unglücklichen Roslavets bis hin zu den international erfolgreichen Emigranten Pärt, Schnittke, Denisov oder Gubaidulina.

Wie bescheiden muss sich da ein Land wie Belgien ausnehmen, das sich bemüht, wenigstens César Franck für sich in Anspruch nehmen zu können, und zu Recht stolz auf seinen wallonischen Sohn Eugène Ysaÿe ist. Da sollte man zumindest annehmen, dass man die wenigen wirklich Bedeutenden, auf die man verweisen kann, auch entsprechend zur Geltung bringt. Doch dem ist nicht so, denn wir können auch beobachten, dass gerade in kleinen Ländern oft die Szene von heftigen Eifersüchteleien und nachhaltig wirksamer Mobbingwirtschaft geprägt ist. Wie wäre sonst zu erklären, dass ein so ausgezeichneter Komponist wie Frédéric van Rossum nach wie vor nur marginale Beachtung findet, oder dass ein vollendeter Dirigent wie Daniel Gazon in seiner Heimat geradezu systematisch kaltgestellt wurde? Belgien ist ein zutiefst zerrüttetes Land, von der Spaltung zwischen flämischem und wallonischem Lager traumatisiert, und wohl keine Musik bringt diesen alltäglichen Höllentrip besser und kunstreicher zum Ausdruck als die der Avantgarde-Chamber-Rock-Gruppe Univers Zéro in düsteren Alben wie „1313“ oder „Hérésie“.

Belgien ist eben ein Land mit vielen „Leichen im Keller“. Eine dieser Leichen wird in den letzten Jahren Stückchen um Stückchen ausgegraben. Es handelt sich um den am 12. Februar 1899 in Dinant geborenen und am 22. Februar 1938 in Woluwé-Saint-Pierre verstorbenen Komponisten Albert Huybrechts, den zweifelsohne bestechendsten Vertreter der klassischen Moderne Belgiens, dem übrigens mittlerweile eine von den Nachkommen autorisierte Webseite gewidmet ist, die zwar nicht gerade viel Background-Information enthält, jedoch wenigstens ein komplettes Werkverzeichnis (das Œuvre Huybrechts’ ist schmal) und einen Überblick über sämtliche kommerziellen Aufnahmen seiner Werke (mit Ausnahme der jüngsten Cyprès-Veröffentlichungen).

Da Huybrechts’ Vater starb, als der Sohn gerade volljährig wurde, übernahm er die Unterhaltsverpflichtungen für Mutter und Geschwister und führte ein Leben im Schatten der Erfolgreichen. Das sah nicht immer so aus, denn 1925 erhielt er für seine frische Sonate für Violine und Klavier (sein in der Folge meistgespieltes Werk) den Coolidge-Preis und fünf Tage später für sein 1. Streichquartett den ersten Preis des Ojai-Festivals.

Der dauerhafte Erfolg war zum Greifen und entglitt ihm doch sogleich wieder. Unbeirrt hat er in der stets knapp bemessenen Zeit, die ihm dafür blieb, weiter komponiert: weit überwiegend Kammermusik vom Feinsten, aber auch Orchesterwerke, Lieder und eine Bühnenmusik zu Aischylos’ Agamemnon, die leider bis auf das Vorspiel verschollen ist. Als Sohn eines Orchestercellisten wurde er zum Oboisten herangebildet (was sicher eine Erklärung für seine große Vorliebe für die Holzblasinstrumente ist) und gewann mit sechzehn Jahren als Instrumentalist den ersten Preis am Konservatorium. In Komposition wurde er von Joseph Jongen, dem angesehenen Franck-Nachfolger in Belgien, unterwiesen und eignete sich gründlichste handwerkliche Fertigkeit an.

Die frühen Werke stehen denn auch noch unter diesem Einfluss, doch treten auch offenkundige Einflüsse Debussys hinzu. Dann erweiterte sich sein stilistisches Spektrum Schritt um Schritt beträchtlich, und er saugte die neuen Errungenschaften Strawinskys, Bartóks, Schönbergs, Milhauds, Honeggers et cetera auf. Am nächsten steht er dem Schaffen Albert Roussels: in seiner widerborstigen Querständigkeit, den schrägen Harmonien und Rhythmen, der aller außermusikalischen Assoziationen abholden radikalen Konzentration auf das Eigenleben der motivischen Entfaltung, der frappierenden Verwebung von Thematischem und Figurativem zu einer Art neuklassischer Polyphonie, die die kontrapunktische Kunst der altniederländischen Meister sozusagen incognito in den aufgeraut expressiven Tonfall schmuggelt, und dem fast demonstrativen Desinteresse an sensationeller Modernität als Selbstzweck.

Übrigens sollte ja selbst Roussel trotz höchsten Karats, größter Schätzung in Fachkreisen und exzellentester Aufführungen letztlich nicht die Popularität etwa von Fauré, Debussy, Ravel, Milhaud oder Poulenc erreichen. Die reifen Werke Huybrechts’ in den dreißiger Jahren sind kontinuierlich von einer Dichte, Stringenz und hermetischen Größe gekennzeichnet, wie dies nur bei den ganz Großen in solcher Regelmäßigkeit der Fall ist. Zugleich ist bei aller Wildheit und lebenssprühenden Eloquenz der schnellen Sätze überall ein zutiefst introvertierter, trostloser Tonfall gegenwärtig, der anmutet wie ein verzweifelter Kampf mit der Einsamkeit und dabei niemals in resignative Sentimentalität umkippt.

2009 brachte das belgische Label Cyprès eine erste Folge Kammermusik heraus: die bekannte, noch stark französisch geprägte Sonate für Violine und Klavier (1925), den ergreifenden Chant funèbre für Cello und Klavier (1926) und das meisterhafte, hochoriginelle Streichtrio von 1935 (CYP 4630). 2011 erschien die zweite Folge, die das komplette Liedschaffen sowie Huybrechts’ einziges Klavier-Solostück, eine Sicilienne in e-Moll, umfasst (CYP 4635).

Und nun liegt also ganz frisch Volume 3 vor, eine Doppel-CD, die wieder ausschließlich Kammermusik präsentiert (CYP 4639): eine weitgesponnene Pastorale für sechs Bläser (1927; der Titel lässt die Hintergründigkeit und Ferne zur eleganten Oberflächlichkeit der französischen Post-Debussy-Konventionalität nicht erahnen); die musikantisch hinreißende Suite für Bläserquintett und Klavier von 1929, deren wild anspringende Gigue beispielsweise die meisten anderen neoklassischen Versuche der Zeit weit überragt – das geht eben sowohl über die kühl konstruierte Puzzle-Technik Strawinskys hinaus als auch über die pittoresken Stilbrüche Poulencs oder die bitonale Musikanterie Milhauds: Huybrechts hat sich deren Vokabular und Grammatik souverän zu eigen gemacht und schreibt zugleich stets aus einer ganzheitlichen Haltung heraus, die einen wachen, integrativ handelnden Geist vermittelt, bei dem technische Meisterschaft, ernsthafte Aussage, Humor, Sarkasmus, Drama, Tragödie und zärtliche Innigkeit nicht zu trennen sind.

Ein sehr dunkles, ruppiges Werk ist das 1932 entstandene Concertino für Cello, welches auch in der Fassung mit Orchester existiert, jedoch hier in derjenigen mit Klavier vorgetragen wird. Zwei Jahre später, 1934, ist die seiden kantable, dunkel timbrierte Pastourelle für Viola da gamba und Klavier entstanden, und auch die hochvirtuose dreisätzige Duo-Sonate für Flöte und Bratsche, die alle französische Idyllik unendlich weit hinter sich gelassen hat – in einiger Hinsicht wie Roussel, und doch auch so ganz anders, hat Huy­brechts hier seinen eigenen Weg gefunden, der das dissonante Spektrum integriert und darin, bei allen absichtlichen Unwegsamkeiten, nie trockener Sperrigkeit anheimfällt, und auf den sich eben keiner der zeittypischen kategorisierenden Begriffe wie Neoklassizismus oder Neue Sachlichkeit treffsicher anwenden lässt, denn in dieser Musik verschmelzen Elemente des Expressionismus und Impressionismus auf einmalige Weise auf der Höhe der Zeit und diese im selben Atemzug trans­zendierend.

Das finale Meisterwerk dieser Zusammenstellung ist Albert Huybrechts’ 1936 komponiertes, drei Sätze in einem durchgehenden Ablauf umschließendes Bläserquintett, das einerseits von überschießender Kraft zeugt und andererseits vollendete Balance der Form bezeugt. Im Mittelsatz, und das ist kaum begreiflicherweise dem Autor des informativen Begleittexts entgangen, flicht Huybrechts’ über die Zeiten hinweg die berühmte Melodie der „Dies irae“-Sequenz ein, die die unbiegsame Achse des Geschehens im Zentrum seines wundervollen Quintetts bildet und dessen unmissverständliche Botschaft in die Welt trägt: Jeder Tag ist – nicht nur, aber auch in Belgien – ein neuer „Dies irae“, dem wir uns mit all unseren konstruktiven Kräften zu stellen haben.

Albert Huybrechts’ Musik kann uns zudem lehren, nicht vor der Unerbittlichkeit und radikalen Schönheit der Realität in die alltäglichen Maskenspiele der Oberflächlichkeit zu flüchten – in der unprätentiösen Sprache wahrhaft großer Musik, die es nicht nötig hat, hübscher, heiliger oder extravaganter scheinen zu wollen, als das menschliche Leben ist.

CD-Tipp

Albert Huybrechts: Kammermusik (Drei Folgen)
Cyprès (Vertrieb: Note 1)
 

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