„Denken Sie bloß nicht, dass wir uns um Sie kümmern WOLLEN.“ Berliner, besser Brandenburger Schnauze. Dieses Desinteresse der beiden Damen im Kartenverkauf ist nur geheuchelt. Sie lauern im lichten Foyer mit der beeindruckenden Glasfront zum Park auf jeden potenziellen Besucher des Brandenburger Theaters. Dort kämpft man seit der Premiere am 4. Oktober gegen eine Unterlassungssünde zu 30 Jahre Mauerfall.
Dabei sind es nicht nur künstlerische, (n)ostalgische oder PR-strategische Argumente, die dem Brandenburger Theater eine vitale und beglückende Eigenproduktion von Gerd Natschinskis Musical „Mein Freund Bunbury“ ins Haus brachten: Das Zusammenspiel von Profis und Menschen der Region ist ein Bekenntnis zu mehr spartenübergreifenden Initiativen bei schmaler Personaldecke. Die Damen an der Kasse freuen sich sehr darüber, denn sie kennen das Stück „von früher…“
Mehr Eigenproduktionen!“ will der neue künstlerische Leiter Frank Martin Widmaier – und er überlegte sich etwas Besonderes für die erste Musiktheater-Position seiner Amtszeit, die zwischen Kai Schuberts Dramatisierung von „Grete Minde oder Die Feuersbrunst zu Tangermünde“ für die Freilichtbühne Marienberg zum 200. Geburtstag von Theodor Fontane und der Opernuraufführung „Ahead of Struwwelpeter“ von David Coleman und Irene Dische (ab 30. Oktober) kurz vor dem 9. Oktober stattfinden sollte. Zum Hintergrund: Das Bundesland erhöht für die nächsten vier Jahre den Anteil an Theatersubventionen von 50 auf 80 Prozent. Die Stadt Brandenburg schießt nochmals eine halbe Million Euro über das Soll hinzu. Das klingt zwar viel und ist auch eine wertvolle Finanzspritze, will aber trotzdem äußerst genau kalkuliert sein. Denn das Gebäude, jahrelang vor allem als Gastiertheater für anreisende Ensembles geführt, hat kaum technisches Personal und keine eigenen künstlerischen Kollektive.
Eine Blüte im Brachland
Seit 2000 gehört das Brandenburger Theater mit dem Hans-Otto-Theater Potsdam, dem Kleist-Forum Frankfurt (Oder) sowie den Theatern Schwedt und Senftenberg zum Theater- und Konzertverbund des Landes Brandenburg. Die Brandenburger Symphoniker sind ein Identifikationsfaktor der Stadt mit ihrer von Schwerindustrie und einer Jugendvollzugsanstalt geprägten Geschichte. Vor Ort gab es nach der Abwicklung des Mehrspartentheaters seit den Neunzigerjahren mehrfach Ansätze zu eigener Theaterarbeit. So organisierten sich entlassene Schauspieler in freien Ensembles wie dem event-theater im Fontane-Klub und der Bürgerbühne. 1997 wurde das alte Theater nach einer letzten „Anatevka“-Vorstellung abgerissen, im Jahr 2000 das neue CulturCongressCentrum mit Großem Haus, Studiobühne, Puppenbühne und Probebühne eröffnet.
Frank Martin Widmaier, der neben Erfahrungen als stellvertretender Intendant des Gärtnerplatztheaters München und als künstlerischer Betriebsdirektor des Theater Dortmund auch viel Leidenschaft für Musiktheater mitbringt, wusste, dass er unter den bestehenden Bedingungen keine annähernd konkurrenzfähige Opernproduktion neben den Gastspielen des Staatstheaters Cottbus oder im Schatten der Berliner Bühnen realisieren könne. Mit der Vorstellungsserie des legendären DDR-Musicals „Mein Freund Bunbury“ erhofft er sich überregionales Interesse. Die „Bunbury“-Produktion der Musikalischen Komödie Leipzig wurde 2018 wegen des Umzugs in die Ersatzspielstätte Westbad abgesetzt und „Messeschlager Gisela“, das andere sprichwörtliche und schon in der DDR aus ideologischen Gründen von den Spielplänen verschwundene Stück des 2015 verstorbenen Gerd Natschinski, kommt erst wieder im August 2020 am Volkstheater Rostock zur Aufführung. Die Brandenburger Produktion ist also derzeit die einzige Blüte im Brachland der über 200 Titel von in der DDR entstandenen Operetten und Musicals. Auch deren kleine wissenschaftliche Lobby hatte bisher noch keine Erfolge mit der Forderung nach Sammlung, Sichtung und Erschließung der auch unter theaterpraktischen und kulturtheoretischen Gesichtspunkten einmaligen Werkgruppe. (Siehe hierzu auch den Beitrag „Faszinierende Zeitdokumente mit Schmiss“ von Kevin Clarke in nmz 5/2013.)
DDR-Opern „Die Verurteilung des Lukullus“ oder „Lanzelot“ von Paul Dessau (in Weimar ab 23. November 2019) sind inzwischen als essenzielle Klassiker einer Epoche anerkannt, nicht aber der früher auch an West-Theatern wie Gelsenkirchen und Augsburg aufgeführte „Bunbury“. Beim Schott-Verlag liegen die von den DDR-Verlagen Henschel und Lied der Zeit übernommenen Notenbestände in den Mainzer Depots. Knappe Zeit- und Personalressourcen lassen aber den Anschub zu einer Promotion-Kampagne, die erst einmal die Aufmerksamkeit der Theaterschaffenden auf diese bei den Jüngeren in Vergessenheit geratene Werkgruppe lenken muss, vonseiten des Verlags nicht zu. So wird eine ganze Gattung mitsamt ihrer ostdeutschen Alltags-, Kultur- und Ideologiegeschichte zur von Aussterben und Vergessen bedrohten Art. Bis vor wenigen Jahren hatte „Mein Freund Bunbury“ in den neuen Bundesländern noch eine stabile Bühnenpräsenz: Diese wurde nach der Wende fast so etwas wie ein Trotz-Faktor, dessen Aufführungstraditionen sich so verhärteten wie jene in der „Fledermaus“ bei Aufführungen österreichischer Tournee-Ensembles. Hoffnungen auf das Erstarken der Gattung nach der peppigen Fassung von „Messeschlager Gisela“ an der Neuköllner Oper 1998, die zu einem Motor der Ostalgie-Welle geworden war, zerschlugen sich. Aufführungen von „Mein Freund Bunbury“ perpetuierten zumeist Konventionen aus der Zeit vor 1989. Dekorative Mutproben blieben Ausnahmen, etwa das Lippensofa, auf dem in Karl Zugowskis Inszenierung an der Musikalischen Komödie Leipzig Lady Bracknell mit Latex-Hütchen posierte.
Durchlüftet, verschlankt
Das ideale Stück also für einen Aufbruch: Intern freute man sich am Brandenburger Theater auf einen Klassiker, nach außen punktete man mit einer Rarität. Für „Bunbury“ ließen sich Jugendliche zum Mitmachen begeistern. In nur einem halben Jahr hatte man einen kompletten Theaterchor mit 26 Mitwirkenden rekrutiert, den Karsten Drewing in die richtige stimmliche Verfassung und damit Spiellust brachte. Aus den Karnevals- und Tanzvereinen der Umgebung kamen die Tänzerinnen als Music-Hall-Girls in die von den Librettisten Helmut Bez und Jürgen Degenhardt von 1890 in die 1920er-Jahre verlegte Handlung der Komödie von Oscar Wilde. Und mit den Brandenburger Symphonikern konnte Hannes Ferrand die Partitur jenseits eingeschlichener Konventionsfloskeln vollkommen neu, frisch und genau durchlüften. Gute Voraussetzungen also für den Mix aus alten und aktuellen Komponenten.
Der Regisseur Frank Martin Widmaier verschlankte zusammen mit Patricia Walcak im Bühnenbild mit weißem Rahmen und Boden das Besondere des Stücks durch dezent Verallgemeinerndes. Der Blick auf die Figuren wurde dadurch schärfer, die Brecht-Austreibung im Musical-Format konnte beginnen. Wie weggeblasen war der konsonantenreiche Duktus der Dialoge. Der musikalische Relaunch holte den üppigen Natschinski-Sound hinüber in einen federnden Boulevardton. Statt Dialektik gab es Zweideutiges mit lockerer Zunge.
Unter den Mitwirkenden befinden sich Gäste, die zur Eltern- und Kindergeneration der DDR-Operetten- und Musicalexperten des Metropol-Theaters gehören. Alexander Kerbst zum Beispiel, der die Riten des mit Zylinder bestückten Johannes-Heesters-Epigonen und Finessen jüngerer Musical-Darsteller vereint. Dagmar Frederic gastiert in der Star-Position als adelige Autorin von Krimis mit „ein bisschen Horror und ein bisschen Sex“. Verena Barth-Jurca und Désirée Brodka haben in der Operette von der Diva bis zur Grisette alle gängigen Figuren durch.
Für die Sängerin Beate Breunung bedeutete die Abwicklung des Brandenburger Theaters auch das Ende ihrer Bühnenlaufbahn. Als Widmaier sie anrief und ihr die kurze, aber wichtige Sprechrolle der Laetitia Prism sowie der Lady Greenham anbot, dachte sie sofort an 1989. Auch da stand „Mein Freund Bunbury“ auf dem Brandenburger Spielplan, Beate Breunung gastierte als Lady Bracknell überdies am Theater Halle. Wurden damals von Ensemble zwischen den Zeilen platzierte Anspielungen im Zuschauerraum verstanden beziehungsweise richtig verstanden? Schließlich hatten die Textautoren Bez und Degenhardt vom Komponisten Natschinski Modetänze eingefordert, die Kultur-Strategen der SED als ‚volksnahe Dekadenz‘ klassifiziert hatten. Das „Bunburysieren“, also das Vorschieben einer Person als Begründung für einen vorzeitigen Aufbruch oder die Präsenz an einem bestimmten Ort, wurde von ihnen als vor-sozialistisches Verhaltensmuster dargestellt.
Geschärfte Zuschauer-Sensibilität
Das traf im „Bunbury“-Uraufführungsjahr 1964 genau den sensiblen Nerv der Theaterzuschauer, die seit 1961 durch die Mauer von allen direkten West-Kontakten abgeschnitten waren und natürlich im Verhalten der Bühnenfiguren Spiegelungen ihrer eigenen Vermeidungsstrategien gegen den Druck des Systems erkannten. Beate Breunung erinnert sich an eine geschärfte Zuschauer-Sensibilität, die sie in späteren Jahren nie mehr mit derartiger Intensität wahrgenommen hatte.
Ihr Kollege Gunter Sonneson kam nach der Wende vom (Ost-)Berliner Metropol-Theater an das Münchner Gärtnerplatztheater. Als Ensemblemitglied dieser zwei führenden Repertoiretheater für Operette und Musical erlebte er die Ost-West-Kontraste hautnah. Vor 1989 war das Musical in der DDR, wie er sich erinnert, durch die Handschrift weniger Haus- und Gastregisseure geprägt, was die Ausprägung eines unverkennbaren Stils begünstigte. Im Westen dagegen seien die szenischen Anforderungen durch den häufigen Wechsel von Regieteams und künstlerischen Handschriften intensiver gewesen. Für Sonneson war es paradigmatisch, dass er am Metropol-Theater laut Vertrag einer von vielen ,singenden Schauspielern‘ war, am Gärtnerplatztheater allerdings der einzige „Schauspieler mit Gesang“ in einem großen Sängerensemble.
Kurzfristig verschoben Gundula und Lukas Natschinski, die Witwe und der Sohn des Komponisten, ihren Vorstellungsbesuch und verpassten so den riesigen Premierenjubel. Diese Zustimmung war bei den Älteren voraussehbar. Aber nicht zu erwarten war der Erfolg des Musicals, das einige Ähnlichkeiten mit der 1961 im Theater des Westens erstaufgeführten „My Fair Lady“ hat, bei der Generation U25. Damit ist endlich der Beweis für die aktuelle Lebensfähigkeit von „Mein Freund Bunbury“ erbracht. Nicht nur unter den mildernden Umständen theatraler Nostalgie, sondern als ein zur Verjüngung fähiges Bühnenwerk mit Hit-Potenzial.
Dreißig Jahre nach dem Mauerfall kommt „Mein Freund Bunbury“ in der Gegenwart an und beweist Zukunftsfähigkeit. Jetzt fehlen auf den Bühnen nur noch Vergleichsmöglichkeiten mit anderen DDR-Musicals.