Nachrufe sind oft vor allem Betonung des Geleisteten. Dies ist im Falle Hans-Ulrich Engelmanns nur richtig, denn er hat sehr viel als Komponist geleistet und ein großes, wichtiges Werk geschaffen, dessen längst fällige Neubeurteilung zum Beispiel Gerhard Rohde zu Recht gefordert hat. Wo kam er her? „Student Nr. 1“ der Darmstädter Ferienkurse (also der erste eingetragene Student der Ferienkurse – hierauf war er immer besonders stolz). Schüler – zur selben Zeit wie Hans Werner Henze – von Wolfgang Fortner. Abgebrochenes Architekturstudium, als Resultat: bleibendes Faible für Konstruktion und Bildende Kunst. Leidenschaft Theater: Arbeit als Dramaturg und Regisseur. Studium der Philosophie, unter anderem – natürlich – bei Adorno.
Was hat er geschaffen? Ein unüberschaubares, großes und wildes Werk. Jugendlicher Opern-Urknall mit dem furiosen und witzigen „Dr. Fausts Höllenfahrt“. Viele weitere Bühnenwerke, etwa „Der Fall van Damm“, „Ophelia“ (für eine Mimin statt einer Sängerin) und schließlich ein Stück mit dem frechen Titel „Revue“, das perfekt den anarchischen Geist Engelmanns widerspiegelt. Werke für Orchester, Werke mit Einsatz von Elektronik (wie die wunderbare „Commedia Humana“), Kammermusik (ein „Tastenstück“, eine „Mini-Music“ für den legendären Siegfried Palm), Geistliches, wie die „Psalmen“ (Text: Karl Krolow), Literarisches wie die „Stele für Büchner“. Für mich war die virtuose „Ezra-Pound-Music“ ein bleibender Ersteindruck: Cellisten, die markig mit Trommelstöcken auf die Saiten schlagen. Energie, wohin man sieht. Diese Musik ist nicht im Ruhezustand, sie ist aus Prinzip unruhig, unstet, auf sympathische Weise ungeduldig. Der Theatermensch schlägt immer wieder durch – es darf keine „Hänger“ geben.
All dies ist bewundernswert genug und muss gewürdigt werden. Aber Hans-Ulrich Engelmann war für mich mehr als das, er war mir ein lieber Freund, ein Förderer, ein wunderbarer Kollege und verkörperte für mich das Idealbild eines „modernen“ Komponisten.
Oft spreche ich ironisch von der „Altavantgarde“, die nur noch um sich selbst kreist. Aber natürlich haben wir der Avantgarde auch viel zu verdanken, vor allem echten „Typen“ wie Hans-Ulrich Engelmann, der diesen Traum von der Avantgarde immer voll lebte, diesen aber in seiner unnachahmlichen hessischen Art mit Wärme und Menschenfreundlichkeit füllte und sich bis ins hohe Alter eine erstaunliche Neugier auf Musik aller Art bewahrte. Es war ihm unmöglich, das gesteigerte, manchmal aggressiv messianische Sendungsbewusstsein zum Beispiel eines Stockhausen anzustreben, da ihm die Intaktheit anderer Individuen immer zu viel bedeutete. Letztlich hatte er dazu auch zu viel Humor; weder sich selbst noch irgend ein Dogma oder eine Idee konnte er auf Dauer ernst nehmen. Deswegen war selbst die streng serielle „Darmstädter Schule“ – die ihn sicherlich Zeit seines Lebens beeinflusste – nie eine Sackgasse, denn für ihn, den architektonisch Hochbegabten, waren die Auswege immer leicht zu finden. Und diese bestanden im Hereinlassen des Lebendigen.
Zeit seines Lebens bewahrte er sich eine Liebe für gut gemachte Unterhaltungsmusik (vor allem Jazz) und zu später Stunde konnte er durchaus eindrucksvoll das Klavier „rocken“, zur Bewunderung seiner vielen Schüler. Auch das Lustfeindliche, Spröde war ihm fremd, selbst wenn er selbst gerade gegen Ende seines Lebens mit düsteren Gedanken zu kämpfen hatte und sich immer wieder auch in kühlere musikalische Konstruktionen hineinsteigerte, so blieb er doch im Grunde seines Herzens ein zutiefst barocker Mensch, der das Leben liebte und die Vielfalt in seiner musikalischen Sprache schätzte.
Und so möchte ich mich an ihn erinnern, an Hans-Ulrich, der einen immer in tiefstem Hessisch mit „moin Froind“ anredete, und gerne „Komponast“ anstatt „Komponist“ sagte, weil er gerne die Zähne beim Sprechen zusammenließ.
Ich erinnere mich an unsere erste Begegnung: Mein damaliger Lehrer Claus Kühnl (sein Student, wie viele andere großartige Komponisten, die die „Engelmannsche Schule“ durchliefen) hatte mich ihm empfohlen, und ich klopfte schüchtern in seinem Zimmer an. Engelmann wirkte fast aristokratisch in seinem Auftreten, was durch seinen Dialekt stark unterminiert wurde. Ganz besonders erinnere ich mich an den starken Duft seines Eau de Cologne, eines seiner Markenzeichen. So stellte ich mir einen modernen Komponisten vor – ich war zutiefst beeindruckt. Engelmann war immer schick gekleidet. Er hatte alles erlebt und kannte alle. Seine Anekdoten über Strawinsky („Der war wahnsinnig eitel, sage ich Dir. Und immer eine Flosche Whisky beim Komponieren!“), den jungen Stockhausen („Der Korlhoinz, der war immer schnell beloidigt“) oder Boulez („Der hatte eine gonze Schor von Assistentinnen dabei, oine schöne als die andere, aber er hat sich nicht für sie interessiert“) sind unvergessen.
Besonders beeindruckend ist die Geschichte, wie er als junger Mann in der Nazizeit (unter der er sehr litt) immer wieder aufs Neue begeistert mit einem Freund die Wanderausstellung „Entartete Kunst“ besuchte. Der wahre Grund: Nur dort konnte man bestimmte moderne und von ihm heißgeliebte Stücke von Hindemith und Strawinsky hören, auf einer Schallplatte, die auf Wunsch von einem Museumswächter vorgespielt wurde. Als Engelmann und sein Freund zum x-ten Male hintereinander scheinheilig ein Anhören dieser Musik forderten, um sich erneut deren „Schrecklichkeit“ zu vergewissern, wurde der Wächter langsam misstrauisch …
In Engelmanns „Kolloquien“ an der Frankfurter Musikhochschule war eine wilde Mischung unterschiedlichster Komponisten vertreten. Und immer, wenn es hoch herging und sich die ambitionierten Jungkomponisten zu streiten drohten, ergriff Engelmann schnell das Wort, erzählte eine Anekdote oder einen Witz und schon war die schlechte Stimmung verflogen. Engelmann konnte durchaus kritisch zu Gericht gehen mit der Musik von Studenten, aber man nahm es ihm nie übel, denn er betrachtete sich immer als „Kollegen“, nicht als „Professor“, und seine Ratschläge waren immer im besten Sinne freundschaftlich.
Ihn zu Hause (im Ehrenviertel für verdiente Darmstädter Künstler, dem wunderschönen Park Rosenhöhe) zu besuchen bedeutete, ein Museum moderner Kunst zu betreten. Nicht zuletzt durch den Einfluss seiner lieben Frau Roma, selber Künstlerin, waren dort die tollsten Bilder, Zeichnungen und Skulpturen zu finden, aber auch prachtvolle Bände über Architektur, Literatur und Theater. Engelmann liebte alle Künste und kannte sich überall aus, von seiner Prägung fühlte er sich aber im Theater und im theatralischen Affekt am wohlsten. Ich erinnere mich an ein Treffen von „Ehemaligen“, bei dem Engelmann erst traurig über das Fernbleiben seines von ihm sehr geschätzten Schülers Hans-Jürgen von Bose war, dann aber einfach ein Bild von ihm aufstellte und – fast wie im Sketch „Dinner for One“ – so tat, als sei er anwesend.
Von Hans-Ulrich Engelmann, aus seinem wunderbaren Buch mit Lebenserinnerungen („Vergangenheitsgegenwart: Erinnerungen und Gedanken eines Komponisten“, Darmstädter Schriften, Band 80), stammt auch einer der klügsten Sätze über Kunst, den ich kenne: „Am Überragenden erkennen, daß über Fleiß und System hinaus letztlich das große Nichtwissen im Schöpferischen wirkt, wäre vor allen organisatorischen Fragen und handfesten Entschlüssen bedenkenswert.“
Es sind die „handfesten Schlüsse“, die kalte Abkanzelung des Ungebändigten, die Chancenminderung des Individuums, die Engelmann – Kind des 20. Jahrhunderts – zutiefst fürchtete. Bei ihm (und bei Claus Kühnl) lernte ich das Wort „abartig“ schätzen, das für ihn Ausdruck höchsten Lobes war, denn was aus der Art schlug, wurde für ihn gerade interessant.
Ich schließe mit meiner Lieblingsanekdote von Hans-Ulrich über den mit einem sehr großen Bauch ausgestatteten Bruno Maderna, den er sehr schätzte: Maderna dirigiert die Probe eines neuen Orchesterstückes. Plötzlich ist er zornig und bricht ab. „Hier keine Kontrabässe, meine Herren, bitte nicht spielen.“ Die Kontrabässe schauen ihn verwirrt an. Man spielt die Stelle erneut, die Kontrabässe setzen wieder ein, Maderna bricht wieder ab. So geht das zwei-, dreimal. Schließlich des Rätsels Lösung: Madernas über die Partitur hängender Bauch hatte die untere Partiturzeile (Kontrabässe) verschwinden lassen!
Hans-Ulrich – ich vermisse Dich. Ich bin traurig darüber, dass gerade Dich, den Lebenslustigen, in den letzten Lebensjahren schwere Depressionen plagten und Du manchmal lange verschwunden warst. Nur um dann plötzlich unvermutet wieder anzurufen mit den Worten: „Moin lieber Froind“. Wenn man das hörte, wusste man, dass die Welt wieder in Ordnung war. Aber jetzt … Solche wie Du – sie werden nicht mehr gemacht.
Und die Welt ist schon lange nicht mehr in Ordnung.