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Gemeinsam musizieren: Evelyn Huber (Quadro Nuevo) und Stefan Schweidler (Musikschule/Lebenshilfe Fürth). Foto: Max Wagner
Gemeinsam musizieren: Evelyn Huber (Quadro Nuevo) und Stefan Schweidler (Musikschule/Lebenshilfe Fürth). Foto: Max Wagner
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Kind falsch. Andere Schule.

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Inklusion, eine Chance „für alle“, gerät ins Schlingern
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„Deutschland braucht einen Neustart für Inklusion“, fordert die Bildungspolitikerin Brigitte Schumann in Nordrhein-Westfalen, in Hamburg macht die Volksinitiative „Gute Inklusion“ mobil, Mathias Brodkorb (Finanzminister und ehemaliger Bildungsminister in Mecklenburg-Vorpommern) erklärt „Warum Inklusion unmöglich ist“ und definiert: „Inklusion ist Kommunismus für die Schulen“. Doch was meint eigentlich der Begriff „Inklusion“, um dessen Umsetzung so viele Auseinandersetzungen entstehen?

Inklusion ist mehr …

Im Gedankengebäude „Inklusion“ leben 7.580.948.712 Menschen (Stand Februar 2018). In jeder Sekunde kommen 2,5 Menschen hinzu. Sie gehören dazu, weil sie da sind. Niemand muss „inkludiert“ werden, egal ob schwarz oder weiß, zur Zeit der Geburt drei oder vier Kilogramm schwer. Jeder ist anders und damit ist Vielfalt normal. Jeder ist Teil des Ganzen („Teil-sein“).

Die Leitidee der Inklusion beschreibt das Ideal einer menschlichen Gemeinschaft, in der jeder Mensch die Menschenwürde des Anderen respektiert und sich solidarisch für die Rechte des Anderen einsetzt. Weder parteipolitisch, noch religiös oder national aufgeladen. Unabhängig von der Gunst anderer Menschen ist die für die Teilhabe des Einzelnen notwendige Unterstützung durch die Gemeinschaft aller Menschen zu gewährleisten (nicht zu gewähren!). Inklusive Prozesse fördern die Entwicklung inklusiver Gemeinschaften und steuern das Zusammenleben aller Menschen unter besonderer Beachtung der Chancengerechtigkeit. Inklusive Bildung ist der zentrale Schlüssel zur Verwirklichung einer chancengerechten Gesellschaft.

Mit der UN-Behindertenrechtskonvention (2006) wurde – unter besonderer Berücksichtigung der Menschen mit Behinderung – das Recht jedes Menschen auf umfassende Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft unter dem Stichwort „Inklusion“ als Menschenrecht verankert. Eigentlich. Verankert in den Köpfen der Menschen hat sich die Formel: Inklusion verwirklicht das Recht der Menschen mit Behinderung auf Beschulung in der Regelschule und barrierefreie Teilhabe. Alte Menschen, Menschen anderer Kulturen und Religionen oder hochbegabte Menschen finden sich in der Diskussion oft nicht im Inklusionskreis „eingeschlossen“. Für sie werden andere Programme mit neuen oder alten Begriffen entworfen. So legte beispielsweise der ehemalige Präsident des deutschen Städtetages, Christian Ude, den Teilnehmern eines Musikschulkongresses (Bamberg, 2013) die Inklusion behinderter Kinder und die Integration von Migrantenkindern ans Herz. Damit wird der Begriff Inklusion entwertet.

Auch mathematisch betrachtet beschreibt Inklusion nicht die Beziehung von Mengen (Inklusion als Ordnungsrelation), sondern ist der Begriff für die Obermenge. Wenn der Kultusminister von Sachsen-Anhalt, Marco Tullner (CDU), in der Spiegelausgabe 52/2017 den bisherigen Weg der Inklusion für gescheitert erklärt und fordert: „Wir dürfen weder Schulen noch Schülerinnen und Schüler überfordern“,  dann reiht er sich ein in die Menge derer, die die Chance einer inklusiven Sicht auf die Welt und auf alle Menschen verspielen.

Die nachfolgenden Gedanken sind der Versuch einer Annäherung an den Gehalt des Begriffes Inklusion, kreisen um den „richtigen“ Lernort für Menschen und öffnen die Perspektive auf ein Leben in der Gemeinschaft aller Menschen: 

Jeder Mensch hat einen Rechtsanspruch auf … tja, und schon wird es kompliziert: Meint Inklusion einen Rechtsanspruch auf eine diskriminierungsfreie und auf Chancengleichheit beruhende Bildung oder den Rechtsanspruch auf ein chancengerechtes Bildungssystem, das, um das Ziel einer bestmöglichen individuellen Förderung zu erreichen, eine Vielfalt verschiedener Lernorte anbietet? Ist ein gegliedertes Schulsystem wirklich ein ausgliederndes Schulsystem? Ist die einhellig als notwendig erkannte innere Differenzierung in einer Schule für Alle weniger ausgliedernd, nur weil alle Schüler in einem Raum unterrichtet werden und obwohl standardisierte Prüfungen nur manche Schüler zu Höherem qualifizieren?

Förderschulen gelten den einen als dem Gedanken der Inklusion widersprechend (weil sie separieren) und den anderen als unverzichtbar im Sinne einer bestmöglichen individuellen Förderung. In der allgemeinen Diskussion gilt Inklusion als umgesetzt, wenn ein „Behinderter“ an der Regelschule gemeinsam mit Nichtbehinderten unterrichtet wird und das Klassenzimmer selbstständig (zum Beispiel mit dem Aufzug) erreicht. (Völlig vernachlässigt wird hierbei zumeist der Blick auf die Art der Behinderung. Selbstverständlich sollte eine Körperbehinderung kein K.O.-Kriterium für den Besuch eines Gymnasiums sein.)

Verkürzt auf die „Schublade der Menschen mit Behinderung“ und auf deren barrierefreie Teilhabe am gemeinsamen Lernen verliert der Begriff Inklusion jedoch seinen Sinn. Inklusion meint alle Menschen, ein Leben lang. Wer von „inkludieren“ oder von „Inklusionskindern“ spricht, hat den Begriff Inklusion nicht verstanden.

Inklusive Bildung: Förderschule

„Kind falsch. Andere Schule“, begrüßte der Vater die Lehrerin in der Elternsprechstunde. Die Lehrkraft hatte die Eltern um ein Gespräch gebeten, in der Hoffnung, mit dem Elternhaus in einen förderlichen Dialog im Sinne des Schülers einsteigen zu können. Seit eineinhalb Jahren besuchte der 10-jährige Schüler die Förderschule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Um sich ein Bild von den häuslichen Gegebenheiten zu machen, erkundigte sich die Lehrerin nach Geschwistern und deren Alter. Der Vater nannte die Klassenstufen (10., 9., 8. und 6. Klasse) und trug noch einmal sein Eingangsstatement vor: „Kind falsch. Andere Schule.“ Vorsichtig begründete die Lehrerin die Richtigkeit des Lernortes: „Sehr selten nur gelingt es bisher, seine Aufmerksamkeit auf die ihm angebotenen Lerninhalte zu richten oder wenigstens für kurze Zeit seinen Stuhl in Richtung der Tafel auszurichten. Sein Lern- und Sozialverhalten ist im Vergleich zu seinen Mitschülern deutlich unterentwickelt, ebenso seine Fähigkeiten …“ (sinngemäße Wiedergabe des Wortlautes).

Das Beispiel führt uns schonungslos in das Dilemma der aktuellen Diskussion um den Gehalt des Begriffes Inklusion und unversöhnlich weg von der Chance, die eine inklusive gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu bieten vermag.

Die Debatte über den richtigen Weg lässt das Ziel jeder Bildungsanstrengung aus dem Blickfeld geraten: Letztendlich geht es doch in erster Linie um das Recht auf Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Die zielführende Frage muss dementsprechend lauten: In welcher Lernumgebung erwirbt der Mensch die Kompetenzen, die es ihm ermöglichen, sein Leben in der Gemeinschaft selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu führen? Und diese Frage betrifft eben keinesfalls nur Menschen mit Behinderung, sondern jeden von uns.

Nicht jeder Mensch kann und will Einstein sein!

Fatalerweise befinden wir uns nicht (mehr) am Beginn einer gemeinsam zu entwickelnden Strategie bezogen auf das genannte Ziel, sondern inmitten einer überstürzt verordneten Hauruckumsetzungspolitik, einer Politik, die weder professionell vorbereitet, nachhaltig gedacht, noch solide finanziert ist. Einer Politik, die – aus welcher Motivation heraus auch immer – die Theorie des „Jeder kann und will, wenn nur …“ zum Dogma erhoben hat. Die Folgen sind bundesweit und länderunterschiedlich zu spüren. Die Leidtragenden sind vor allem die Menschen mit Behinderung sowie die Erzieher und die Lehrkräfte. Während in manchen Bundesländern (NRW) bereits eine Reanimation der abgewickelten Förderschulen stattfindet, andere (Bayern) gar nicht erst ernsthaft darüber nachdachten, ihr traditionelles Drei-Spartenmodell zu hinterfragen, klammern sich wieder andere an der dogmatischen Umsetzung der Inklusion fest und verweigern jeden Gedanken, der sich mit individuellen Grenzen beschäftigt. Anstatt das selbstbestimmte Leben in der Gemeinschaft als Ziel einer inklusiven Entwicklung und einhergehend einer inklusiven Pädagogik zu erklären, verbeißen sich die Protagonisten in unlösbaren Grabenkämpfen.

Ein absolutes Tabu in der Diskussion scheint die Frage nach der Funktionslogik unserer Gesellschaft zu sein. Solange der Wettbewerb und das Wachstum unkritisch als die Motoren und Garanten für die Zukunftsfähigkeit eines Gesellschaftssystems gelten, werden diejenigen ausgesondert werden, die nicht zu den erhofften Leistungsträgern zu zählen sind. Inklusion hin oder her. Die herrschende Funktionslogik unserer Gesellschaft bestimmt die nachgeordnete und zuarbeitende Funktionslogik des Schulsystems. Somit verbleibt das exkludierende Schulsystem für jede Gesellschaft, in der der freie Markt die Regeln bestimmt, systemrelevant.

Inklusion ist keine Vision, öffentliche Musikschulen als Vorreiter

Kultureinrichtungen wie etwa Musikschulen können einer anderen Funktionslogik folgen und beispielgebend den Weg einer inklusiven Entwicklung vorwegnehmen. Die öffentliche Musikschule kann, ja muss, eine Musikschule für alle sein. Dass die Leitidee der Inklusion keine Vision bleiben muss, dafür gibt es im Verband deutscher Musikschulen bereits vielfältige Beispiele. Kulturelle Vielfalt ist an öffentlichen Musikschulen ebenso normal und selbstverständlich, wie die musikalische Begegnung von jungen und älteren Schülern, von Liebhabern völlig verschiedener Musikstile oder von Menschen mit oder ohne Behinderung.  Mit der Potsdamer Erklärung (2014) und der Veröffentlichung „Spektrum Inklusion“ (2017) unterstützt der VdM auf dem Felde seiner Zuständigkeit und im Rahmen seiner Möglichkeiten die gesamtgesellschaftliche inklusive Entwicklung und zeigt Wege zur Entwicklung inklusiver Musikschulen auf. Ganz bewusst nutzen Musikschulen hierbei ihr Selbstverständnis als Angebotsschulen. Ganz bewusst profilieren sich öffentliche Musikschulen als eigenständige Bildungseinrichtungen, vernetzen sich in ihren kommunalen Bildungslandschaften und setzen so auf das multiprofessionelle Zusammenwirken aller Akteure. Musikschulen haben nicht den „Sinn“ für alle im Angebot, aber sie sehen sich in der Pflicht, für alle Menschen in ihrem Zuständigkeitsbereich „annehmbare“ Angebote zu machen. Angebote, die jedem Einzelnen die Entscheidung ermöglichen, das eigene Leben durch musikalisches Handeln mit Musik zu bereichern. Zu bereichern, nicht „bereichert zu bekommen“!  Denn auch im Lernort Musikschule sind Lernen und Üben eigenaktive Prozesse. Eine Teilhabe wird sich nur mit der Erarbeitung (dem Erwerb) einer möglichen Teilgabe einstellen.

Nicht die Größe der Teilgabe ist entscheidend, sondern die Bereitschaft aller, die Regeln (die Funktionslogik) der Musik zu achten. Musik „funktioniert“ vor allem über die Synchronisation stimmiger  Klangereignisse. Nur wenn diese gelingt, ist davon auszugehen, dass die eigene Teilgabe als Bereicherung der Gestaltung eines musikalischen Werkes empfunden und auch von Mitmusikern als willkommene Bereicherung wertgeschätzt wird.

Von inklusiven Musikschulen lernen

Qualität ist auch in den Musikschulen nur zu erwarten, wenn die (regelmäßige) Teilnahme an Lernprozessen als Voraussetzung für jede nachhaltige Teilhabe verstanden und die (individuell größtmögliche) Teilgabe aller Beteiligten in das individuelle und gemeinsame Musizieren als Ziel des Unterrichts verfolgt wird. Inklusion wird nur dann wirklich zur Chance für alle, wenn die Gemeinschaft den Mut findet, dem Recht auf Teilhabe eine „Pflicht“ aller auf eine Teilgabe im Rahmen der je eigenen Möglichkeiten gegenüberzustellen und jeder Einzelne Verantwortung für die eigene Teilgabe und damit für die Gemeinschaft übernimmt. Selbstverständlich auch Menschen mit Behinderung. Die größtmögliche Kooperation und Durchlässigkeit aller Lernorte erscheint in der aufgeheizten Debatte als aussichtsreichster möglicher Ausweg. Aber meint Inklusion nicht vielleicht genau dieses? Die kooperierende Zusammenarbeit und die Erkenntnis der gemeinsamen Verantwortung für die bestmögliche Förderung und für ein individuell als sinnvoll erfahrenes Leben jedes Menschen? Ist es wirklich so absurd, auch Gymnasien als Förderschulen in einem gegliederten Förderschulsystem zu begreifen und damit auch –inklusiv gedacht – diesem Teil einer real existierenden Vielfalt von Schülern einen diskriminierungsfreien Zugang zu bestmöglicher Bildung anzubieten? Das Kind ist nie falsch. Die Schule bisweilen schon.

Robert Wagner ist Vorsitzender des Bundesfachausschusses Inklusion im VdM

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