Wien - Brahms war nicht nur ein Musik-Titan. Der Hanseat liebte die leichte Muse und beschäftigte sich mit japanischer Volksmusik. Forscher fordern ein umfassenderes Bild des Komponisten.
Das Leben des deutschen Komponisten Johannes Brahms ist aus Sicht von Musikwissenschaftlern auch 125 Jahre nach seinem Tod in Wien noch immer nicht ausreichend untersucht. Während die Biografien von Vorgängern wie Bach, Haydn oder Mozart umfassend erforscht seien, konzentriere sich die Wissenschaft bei Brahms vor allem auf sein musikalisches Werk, sagte Otto Biba, der ehemalige langjährige Chefarchivar der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, wo Brahms' Nachlass aufbewahrt wird. «Man muss den Menschen Brahms im Griff haben, um seine Werke zu verstehen», sagte Biba der Deutschen Presse-Agentur.
Auch für den Leiter des Brahms-Instituts der Musikhochschule Lübeck, Wolfgang Sandberger, gibt es noch einiges geradezurücken und zu beleuchten. «Er ist zu einer Ikone der bürgerlichen Welt geworden. Trotzdem ist diese Biografie voller Brüche und Ambivalenzen», sagte er über Brahms.
Der 1833 in Hamburg geborene Brahms starb am 3. April 1897 in seiner Wahlheimat Wien an einer Lebererkrankung. Auf seinem Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof ist er als nachdenkliches, bärtiges Genie dargestellt, das mit einer Hand an der Stirn von einer schlichten Säule herabblickt. Direkt daneben steht das üppige Grabdenkmal des Walzerkönigs Johann Strauss, mitsamt steinernen Engeln und Harfenspielerin. Dass der hanseatische Schöpfer von vier Symphonien und der Wiener Meister der leichten Muse Freunde waren, verwundert nur auf den ersten Blick.
Wenn man sich mit dem jungen Brahms beschäftige, lasse sich das gängige Bild vom durch und durch bürgerlichen Komponisten nicht aufrechterhalten, sagte Sandberger. «Er stammt aus bestenfalls kleinbürgerlichen Verhältnissen.» Er wurde im beengten Hamburger Gängeviertel als Sohn eines Musikers geboren und wurde mit Unterhaltungs- und Tanzmusik groß.
Sandberger wies darauf hin, dass Brahms zur gleichen Zeit nicht nur mit seinem anspruchsvollen «Deutschen Requiem» seinen Durchbruch feierte, sondern auch Erfolg mit den «Ungarischen Tänzen» hatte, die zusammen mit dem «Wiegenlied» («Guten Abend, gut' Nacht») zu seinen populärsten Melodien gehören. «Brahms hatte ein Faible für diese raffinierte Unterhaltungsmusik», sagte der Leiter des Bremer Instituts, das über eine riesige Brahms-Sammlung verfügt.
Aus Sicht des Wissenschaftlers wäre auch eine Auseinandersetzung mit Brahms' Beziehung zu romantischer Literatur wichtig, um das Bild zu korrigieren, dass der Künstler stets nach absoluter Musik ohne äußere Einflüsse gestrebt hätte. «Diese Klischees funktionieren mit Blick auf den jungen Brahms nicht», sagte Sandberger. Der las nämlich nicht nur Werke von E.T.A. Hoffmann, sondern unterzeichnete manche seiner früheren Kompositionen sogar mit Kreisler - dem Namen eines von Hoffmann erdachten, exzentrischen Kapellmeisters.
Laut Biba stützen sich neuere Bücher über Brahms noch immer zu stark auf eine mehrbändige, mehr als hundert Jahre alte Biografie sowie auf Brahms' Briefkorrespondenz. Es gebe kein großes biografisches Forschungsprojekt, das eine breitere Fülle von Dokumenten unter die Lupe nehme und seine gesellschaftliches Umfeld ausleuchte.
Und auch den musikalischen Spuren von Brahms sollte aus Sicht des Forschers genauer nachgegangen werden - von seinem Kompositionslehrer Eduard Marxsen, der wiederum bei einem Schüler Mozarts in Wien ausgebildet worden war, bis zu einer Sammlung japanischer Volkslieder, mit denen sich Brahms beschäftigte. «Er war neugierig», sagte Biba. «Er interessierte sich für alles.»