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Foto der Orgel in der Hamburger Hauptkirche St. Kathrinen.

Orgel in der Hamburger Hauptkirche St. Kathrinen. Mit einem achtstündigen Orgelmarathon wurde der 10. Geburtstag der Rekonstruktion dieser Orgel gefeiert.

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Acht Stunden Orgelmarathon: Das „Orgelbüchlein Project“ in St. Katharinen und St. Nikolai in Hamburg

Vorspann / Teaser

Wer sich der Pfeifenorgeln wirklich nähern will, muß sich mit der Musik Johann Sebastian Bachs auseinandersetzen – da führt kein Weg dran vorbei! In Hamburg fand jüngst die Deutsche Erstaufführung des „gesamten“ Orgelbüchleins, des „Orgelbüchlein Projects“, statt. Zeitgenössische Komponisten haben dabei die Leerstellen, die Bach selbst zwar geplant aber nicht ausgeführt hat, durch ihre neuen Kompositionen gefüllt. Acht Stunden Orgelmarathon waren das Ergebnis, das sich hören ließ. Dabei wurde klar, dass Bach noch immer der Maßstab in der Orgelkomposition ist.

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Ob Johann Sebastian Bach wohl selbst geahnt hat, was für ein einzigartiges und herausragendes Werk er mit seinem „Orgelbüchlein“ quasi für die Ewigkeit geschaffen hat? Eigentlich war es wohl – wie das Vorwort vermuten läßt – seine Absicht, eine Art Orgelschule zu schreiben, die in allererster Linie im (wohl liturgischen) Umgang mit dem Choral unterweisen sollte: „Orgel = Büchlein / Worinne einem anfahenden Organisten Anleitung gegeben wird, auff allerhand Arth einen Choral durchzuführen, anbey auch sich im Pedal studio zu habilitiren, indem in solchen darinne befindlichen Choralen das Pedal gantz obligat tractiret wird.“

Heute ist Bachs Orgelbüchlein zum unerläßlichen Vademecum für jeden Organisten geworden. 46 Choralbearbeitungen des noch jungen Bach, die schon lange sowohl im liturgischen als auch im konzertanten Rahmen ihren festen Platz gefunden haben. Ursprünglich hatte Bach 164 Kompositionen geplant und auch schon ein entsprechendes Konvolut an Notenblättern vorbereitet, indem er die Titel der 164 Choräle schon auf die Notenseiten eingetragen hat. Am vergangenen Wochenende fand in den Hauptkirchen St. Katharinen und St. Nikolai in Hamburg die Deutsche Erstaufführung des gesamten Orgelbüchleins, besser: des „Orgelbüchlein Projects“, mit seinen 164 zum größten Teil neu komponierten zeitgenössischen Choralbearbeitungen statt.

Nicht nur die musikalisch-kompositorische Ausformung Bachs der einzelnen Choralbearbeitungen ist von Bedeutung. Auch das Choralrepertoire selbst gehört in unseren Tagen zum immateriellen Weltkulturerbe und stellt damit einen bedeutenden Wert dar. – Bereits beim Anlegen dieses Konvoluts hat Bach entscheiden, wie lang die einzelnen Stücke letztendlich werden sollten, wieviel Platz auf den Notenblättern für die einzelnen Stücke reserviert werden mußten. Bach komponierte die Stücke zwischen 1712 und 1717, als er in Weimar sukzessive vom Kammermusiker zum Hoforganisten und Konzertmeister aufgestiegen war. Vielleicht waren es die dabei zunehmenden Aufgaben, die ihm letztlich die Zeit nahmen, alle geplanten Choralbearbeitungen auszuführen. Die kompositorische Erkenntnis, die Bach der Nachwelt mit der Vervollständigung des Projektes hätte vermitteln können, ist immens. Die überlieferten Choralbearbeitungen selbst (als Einzelwerke und als Sammlung) sind einzigartige Kleinode barocker Kompositionskunst.

So war es eigentlich schon lange überfällig, dass vor einigen Jahren der englische Organist William Whitehead auf die Idee kam, diese Lücke zu schließen, indem er zeitgenössische namhafte (Organisten-)Komponisten bat, die fehlenden 118 Stücke zu ergänzen. Die Meßlatte für dieses Projekt liegt hoch. Der renommierte Bach-Forscher Christoph Wolff beschreibt Bachs originale Orgelbüchlein-Sätze so: „Dichte motivische Struktur und kontrapunktisches Raffinement (bis hin zum strengen Kanon) in Verbindung mit einer kühnen und ausdrucksstarken musikalischen Sprache sowie subtiler musikalisch-theologischer Textausdeutung. Jeder Satz erzielt proportionales Gleichgewicht, indem sich Manual- und Pedalstimmen elegant zu einer mustergültigen Orgelpartitur verbinden“.

Whitehead setzte die Vorgaben für sein Projekt (zumindest augenscheinlich) insgesamt niedriger an. Nur drei Bedingungen müssen die eingereichten Kompositionen erfüllen: sie sollen sich zum einen am Zeitrahmen der originalen Kompositionen orientieren, der im Durchschnitt zwei Minute beträgt und maximal fünf Minuten dauert. Zum anderen sollen sie für Orgel solo komponiert sein und drittens die Melodie in ihrer ursprünglichen Gestalt verwenden. Whitehead weist noch darauf hin, dass Bach selbst drei Typen von Choralbearbeitungen verfaßt hat: den „Melodie-Typ“, einen ornamentierten Cantus-Firmus-Typ und den Kanon. Dann ermutigt er die Komponisten stilistisch alles von einer Stilkopie (Pastiche) bis hin zu „individuellen, zeitgenössischen, kreativen Antworten auf die Choralmelodie“ zu erschaffen.

Das Echo war enorm und bis dato liegen etwa 400 Kompositionen vor, wobei es bei den Komponisten einige Lieblingschoräle gab, die öfter auskomponiert wurden, z. B. „Nun ruhen alle Wälder“ oder „Ein feste Burg ist unser Gott“. Whiteheads gruppiert diese Werke nun in drei Kategorien: 1. einen Grundbestand, 2. einen Bestand mit „erweiterten Kompositionen“ und 3. eine internetbasierte Community. Die Werke der ersten Kategorie werden in einer sechsbändigen Druckversion herausgegeben, die der zweiten und dritten Kategorie werden im Internet zur Verfügung gestellt und können ständig ergänzt werden.

In der deutschen Erstaufführung wurde (wie letztlich bei derzeit allen Aufführungen) eine Kombination aus diesen drei Kategorien der Öffentlichkeit vorgestellt. Es wurden die originalen Bachsätze gespielt – natürlich! Bei den zum Grundbestand gehörenden Werken wurden einige Kompositionen ausgetauscht und einerseits Stücke aus dem erweiterten Bestand und zum anderen Werke der konzertierenden Organisten selbst (Andreas Fischer, Xavier Schult, Christian Skobowsky) eingefügt. Auch wenn man vielleicht den (letztlich willkürlich ausgewählten) Grundbestand einmal in Gänze hören möchte, so sind diese individuellen Ausformungen von Whitehead ausdrücklich erlaubt und gewünscht. Immerhin – so könnte man sich gut vorstellen, dass er argumentiert: „das Orgelbüchlein gehört uns allen!“

Der Zeitpunkt für die Deutsche Erstaufführung fällt mit einem wichtigen Jahrestag in der St. Katharinenkirche zusammen: am 9. Juni 2013 wurde die neue Orgel bzw. die Orgelrekonstruktion unter dem Motto „Eine Orgel für Bach“ eingeweiht. Zum 10. Jubiläum sollte es etwas Besonderes geben – und das ist (fast) rundherum gelungen. Wie könnte man diese Orgel besser feiern als mit Bachs Orgelbüchlein und zeitgenössischen Antworten auf dieses Werk? Man hätte an Bachs dritten Teil der Clavierübung denken können, vielleicht. Acht Stunden Marathon mit Bach’scher Musik aber, die auf dieser Orgel quasi zuhause ist und mit der Botschaft, dass Orgelmusik in unserer Zeit noch lebt und neue bunte und wohlschmeckende Früchte hervorbringt – besser geht es nicht!

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Foto der Orgel in der Hamburger Hauptkirche St. Kathrinen.

Orgel in der Hamburger Hauptkirche St. Kathrinen. Mit einem achtstündigen Orgelmarathon wurde der 10. Geburtstag der Rekonstruktion dieser Orgel gefeiert.

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Exkurs:

Wen interessiert (außer der Fachwelt) ein solch gigantisches Projekt? Die Besucherzahlen in Hamburg waren äußerst überschaubar. Im ersten Konzert waren etwa 55 Gäste anwesend. Beim zweiten Konzert waren es noch ca. 40 Besucher, beim dritten Konzert um die 20 und im Abschlußteil knapp über 10 Gäste. Die Gesamtzahl der interessierten Zuhörer liegt bei etwa 50, denn neue Besucher kamen im Laufe des Marathons nur spärlich hinzu. Man könnte hier nun Gründe suchen (Ermüdungserscheinungen des Publikums im Laufe des Marathons, das schöne Hamburger Wetter, ….) oder mit Besserwisserei glänzen (bessere Werbung, ein Einführungsreferat [das tatsächlich existenziell gefehlt hat – 164 höchst unterschiedlichste Kompositionen ohne jegliche weitere Informationen nacheinander abzuspielen – das muß man erst einmal bringen!], Einbruch der Publikumszahlen nach Corona, …..). Immerhin: Andreas Fischer, der musikalische Hausherr, hatte mit diesen Zahlen gerechnet. Keine Gründe und keine Besserwisserei! Aber: ein sehr aufmerksames Hinschauen auf diese Zahlen, eine Wahrnehmung des dahinterstehenden kulturellen und gesellschaftlichen Desasters und eine Reaktion sind notwendig! Nicht nur in St. Katharinen!

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Insgesamt 22 Organisten aus Hamburg und Umgebung haben diesen Marathon bestritten. Sie hatten eine dankbare und vielfältige Aufgabe und sie haben gezeigt, dass es auch bei den altgewohnten Bach’schen Originalsätzen eine weite Interpretationsschiene gibt. Was ist das Orgelbüchlein für Musik – liturgische geprägte oder konzertante? Wie anders klingt liturgisch geprägte Musik im konzertanten Rahmen? Die neuen Kompositionen boten reichhaltige Möglichkeiten sich mit der Musik und den Interpretationsmöglichkeiten unserer Zeit auseinanderzusetzen. In den drei beteiligten Orgeln (Flentrop [„Eine Orgel für Bach in St. Katharinen“], Kleuker [Chororgel in St. Katharinen] und Peter-Klais [die jüngst restaurierte Orgel in St. Nikolai]) schlummerte dafür ein schier unerschöpfliches technisches und klangliches Potential.

Die Weite der neuen Kompositionen war geradezu unüberschaubar. Das allererste Hören von über 100 neuen Werken mag den einen oder anderen Zuhörer gefordert, vielleicht überfordert haben. Dieser Marathon kann – gerade bei der inneren Komplexität mancher Werke – letztlich nur ein allererster Höreindruck gewesen sein, der aber das Gefühl zurückläßt, etwas Einzigartiges gehört und erlebt zu haben. – Nicht alle haben dabei die Grundbedingungen des Projektes erfüllt und für manche mag gelten, was Martin Luther einst über die Apokryphen gesagt hat: „Apocrypha. Das sind Bücher: so nicht der heiligen Schrift gleich gehalten: und doch nützlich und gut zu lesen sind“. Etwa ¼ der Kompositionen fallen möglicherweise in diese Kategorie.

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Technisch sind die Organisten teils sehr gefordert worden – vielleicht waren diese Stücke auch nur die Antwort auf Bachs eigenen Orgelbüchleinchoral „Hilf Gott, dass mir’s gelinge“. Über die anderen Werke wird man nach und nach ins Gespräch kommen müssen, wenn sie langsam aber sicher allüberall Einzug in Gottesdienst und Konzert halten – und vor allem, wenn die Noten auch für jedermann verfügbar sind. Hervorzuheben ist der hohe Anteil an Komponistinnen, die in diesem Projekt aufgenommen worden sind – immerhin etwa 10 Prozent. Das liegt weit über dem Durchschnitt!

Das „Orgelbüchlein Project“ ist ein erster Schritt in der Auseinandersetzung mit diesem singulären Meisterwerk. Es ist zugleich Anregung, mehrere Sichtweisen auf das Orgelbüchlein einzunehmen. Ähnliche Ansätze, die es nur deutschen Komponisten erlauben teilzunehmen oder nur Kirchenmusikern wären vorstellbar. Das vorliegende Ergebnis ist vor allem eine zeitlich begrenzte Reaktion auf die Originalkompositionen. Wir werden es wohl nicht erleben, aber dieses Projekt müßte etwa alle 100 Jahre wiederholt werden, um auch den Zeitgeist und den kompositorisch-stilistischen Status der jeweiligen Zeit zu dokumentieren. So könnte dieses Projekt in der Zukunft zu eine echten Jahrtausendprojekt werden!

Weitere Informationen: https://orgelbuechlein.co.uk/

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