Die Regisseurin Franziska Angerer bewegt sich zwischen Sparten und Genres. Am Theaterhaus Stuttgart beriet sie im Winter die Produktion von Genoël von Lilienstern „Unsupervised Sounds“, einen „gegenseitigen Lernprozess zwischen Ensemble Garage und einer künstlichen Intelligenz“. Am Staatstheater Darmstadt erweiterte sie für die szenische Uraufführung Ethel Smyths „The Prison“ (Das Gefängnis) zu einem Raum im Zuschauerraum, der die Vernetzheit Aller mit Allem in vieldeutige Bilder bannte. Beim Uraufführungsprojekt „Bär*in“ in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin geht es ihr zur Musik von Arne Gieshoff nicht ums korrekte Gendern, sondern um die latente Beziehung des Berliner Wappentiers zum existenziellen Roman-Essay „An das Wilde glauben“ der französischen Anthropologin Nastassja Martin. Eine Raum- und Grenzüberschreitung mit rituellen Akzenten.
Die mit dem Bär kämpft: Die Musiktheater-Uraufführung „Bär*in“ an der Deutschen Oper Berlin
Viel technischer und materieller Aufwand steckt in der sachlich-spirituellen und nur durch maßvolles Licht gebändigten Leistung für „Bär*in“. Aber am Ende gewann alles Sinn bei diesem Brückenschlag von Nastassja Martins autobiographischer Grenzausschreitung in ihrem Roman „An das Wilde glauben“, weil die Regisseurin Franziska Angerer ihre zwei Themen nicht nur dekorierte, sondern an den gedanklichen Wurzeln packte und Arne Gieshoffs Komposition sich gut überlegt mit Andeutungen begnügt, aber nicht die expressionistische Klanggesten-Keule schwingt.
Anlässe dazu hätte es in diesen 80 Minuten reichlich gegeben aus dem Text, in den die Sprech- und Sängerdarstellerin Eva Hüster anfangs etwas neutral, später gerade deshalb sehr überzeugend einstieg. Aber das musste wohl sein. Die Verbindung „von allem mit allem“, wurde für die französische Anthropologin Nastassja Martin seit dem 25. August 2015 zur physisch-psychischen Grenzerfahrung. Während ihres Forschungsaufenthalts bei den Ewenen auf der russischen Halbinsel Kamtschatka unternahm Nastassja Martin aus irrationalen Impulsen eine Wanderung auf abgelegene Höhenzüge. Dort gerät sie in Berührung mit einem Braunbären: Er beißt ihr einen Teil des Kiefers ab, sie schlägt ihm mit einer Hacke eine tiefe Wunde. Ein Wunder: Nastassja Martin überlebt durch ewenische Heilkenntnisse. Aber auch durch die Kraft des eigenen Willens und die Bereitschaft, die durch den Biss erworbenen Bärenanteile zu akzeptieren. Das wahrhaft Drastische ist nicht die aus wissenschaftlichen wie der Extremerfahrung gespeiste Akzeptanz schamanischer Wahrnehmung, sondern die mit sachlicher Beweisführung legitimierte Wahrheit des Animismus: Das Axiom von der Beseeltheit und Bedingtheit aller Wesen und Dinge.
Das sehr schwere und schwierige Gedankengut gewinnt durch die spirituelle Erleichterung Nastassja Martins tiefere Bedeutung. Diesen bürdeten sich Franziska Angerer und die Ausstatterin Valentina Pino Rayes auf und zerlegten ihn mit durchschaubaren, dabei sehr sinnfälligen Mitteln. Sie unterteilen die riesige Spielfläche der Tischlerei in vier rechteckige Flächen für die Sphären der Ewenen, der drei Berliner Band-Bären, das sechsköpfige Instrumentalensemble sowie einen Ritualraum mit Fleischerhaken und Plastikverpackung für den entblößten Performance-Künstler und Sündenbock. Die Haltung der Gesangspartien (die Mezzosopranistin Maire Therese Carmack und der Bariton Daniel Nicholson) ist fluid wie der dekorative Materialgebrauch und die einleuchtende Weigerung der Dramaturgin Carolin Müller-Dohle, den Erläuterungskreis mit lückenloser Deutlichkeit auszuschreiten. Das funktioniert, weil Musik und Aktionen klar durchdacht sind, nicht in Erklärungsansprüchen zueinander stehen bleiben: Die sprachgewandte Trekerin Eva Hüster für die Autorin Nastassja Martin ist an eine Lautsprecher-Box angedockt, die sich in schlichten Ariosi und Text-Fragmenten artikulierenden Sänger hängen an mit Fellbüscheln übersäten Möbeln und Requisiten.
Dass sich die 80 Minuten dann über die Addition eines Songblocks zum Berliner Bärensterben mit paralleler Trauma-Bewältigung über einen durchschnittlichen Betroffenheitspegel erheben können, ist auch der physischen Passion des Performance-Artisten Frédéric Krauke zuzuschreiben. Mit ihm erfand Angerer eine Opferfigur parallel zu den Körpererfahrungen in Martins Text. Das gerät zu einer virtuosen Körperausstellung und -entäußerung, einem animistischen Initiationsritual und lustvoll abstoßender Anstrengung für das Publikum.
Punkt. Das nächste und letzte Musiktheater-Kapitel kippt nach Berlin. Die Band tritt an mit Ganzkörper-Fellkostüm und Bärenköpfen. Das Niedliche reibt sich sofort an den Songgebilden vom Schlager im Sound der 1920-er Jahre bis zum Hiphop-Requiem an die letzte Berliner Bärin. Als 1939 der Bär zum Berliner Wappentier wurde, setzte man auch eine vierköpfige Bärengruppe in den Zwinger am Köllnischen Park, deren letzte Nachfahrin Schnute 2015 dort ziemlich einsam starb. Arne Gieshoffs Musik, gut strukturiert und szenenaffin dirigiert von David Wishart, liegt nichts daran, Bärensongs und heikles Heilungsmysterium in ein Musikdrama zu überführen. Höchstwahrscheinlich wären Gieshoffs Ton-Fragmente und koloristische Malereien an einem mehr griffigen, nicht auf spirituell und essenziell Grenzwertiges zielenden Plot zerschellt. Hier aber tut sein undogmatisches, unsentimentales und ungriffiges Klang-Gebaren sehr gut, weil es die Bären-Metaphysik ohne kompositorischen Moraldruck zum Publikum bringt. Der Naturbezug im unnatürlichen Bühnenraum bringt die Auseinandersetzung mit Animismus weniger durch ein hartes Konzeptgebäude in Fluss, sondern durch Nachdenken. „Bär*in“ entwickelt einen eigenen Puls mit uneitler Empathie, sachlicher Beobachtung und Mitteln eines materialistischen Ritualtheaters, bei dem die Musik nicht das letzte Wort hat.
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