Die Frankfurter Gesellschaft für neue Musik veranstaltete mit partisan-notes.com eine „Visite Critique“ bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt. Die Visite Critique besteht im gemeinsamen Besuch von Festivals für Neue Musik und offenen unkuratierten Diskussionen unter Liebhabern, Komponisten, Interpreten, Publikum, Musikwissenschaftler und Kritikern über die Konzerte des Vortages. Wir sind nicht Teil der jeweiligen Festivals, sondern bewusst Besucher. Das Format wurde bereits bei den Ferienkursen 2021, Wien Modern 2022 und der Cresc…-Biennale Frankfurt 2023 durchgeführt und es trägt der in Adornos Ästhetischer Theorie formulierten „Selbstverständlichkeit“ Rechnung, „dass nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist.“
Die Visite Critique auf den Darmstädter Ferienkursen
Das gilt für die Erfahrung Neuer Musik im Besonderen, die gerade dadurch verstellt wird, dass sie für selbstverständlich hingenommen wird, als kulturindustrielle Branche ihren einsortierten Platz zugeteilt bekommen hat – und brav einnimmt. Die Visite Critique behandelt die Neue Musik so, als würde sie sich nicht unmittelbar erschließen, als wäre sie nicht auf ihre Genrezugehörigkeit zu reduzieren, als bedürfe sie der ästhetischen Infragestellung und verdiene sie sogar. Ob dem so ist, lässt sich nur verantwortlich beurteilen im Rahmen solcher Kritik. So also das kunstkritische Urteil heute fragwürdig und nicht selbstverständlich ist, sind folgende Überlegungen Resultat der Gespräche mit den Amici in artibus Zacharias Faßhauer, Richard Millig, Monika Voithofer, Selina Pilz, Dalma Sarnyai, Claus-Stefan Scheuer, Assaf Shelleg, Nora Sprenger, Leander Ruprecht, Christoph, Jacques Zafra und vielen weiteren, sporadischen Mitdiskutanten.
Die Erfahrung Neuer Musik im Besonderen
Im Hinblick auf die von Festivalleiter angesprochene und in der Tat virulente Frage von „Togetherness“ – „Miteinandersein“ – stellt das vom Klangforum nachdrücklich, präzis und tief interpretierte Werk die Frage nach der beredten Sprachlosigkeit. Bei gegenseitigem Austausch und Networking ist auch Darmstadt ein Marktplatz, auf dem Konkurrenz um Jobs oft die gegenseitige, kooperative und kreative Erschließung des Neuen begleitet und untergräbt, falls dieser Widerspruch nicht bewusst vermittelt werden kann. Die Eröffnung mit Aperghis bildet nicht die harmonische Perfektibilität von frei assoziierten 23 Solisten ab, sondern beleuchtet auch das kulturindustriell isolierte Darmstadt und seine Geschichte als gescheitertes Soziotop hospitalisierter und aufeinander losgelassener Labortiere, die sich gegenseitig umarmend zerfleischen.
Auf der anderen Seite des Spektrums vom beredten Schweigen liegt das nichtssagende Geplapper von Jennifer Walshe und Matthew Shlomowitz in Minor Characters. Wer Jennifer Walshe seit den 2010er Jahren einmal erlebt hat, kennt das Stück schon, nur hat diesmal Matthew Shlomowitz noch ein paar Bandmusik-Instrumentals auf Hochglanz, als würde man sich auch nicht trauen, ganz auf die Höhe der Hochkultur zu verzichten, für das Ensemble Nikel dazukomponiert: Der Text handelt vielleicht von Irland, Exorzismus, Internet und Missbrauch, vielleicht aber auch von nichts von alledem, oder von der Leere allen Inhalts. Das ist auch egal. Denn formal spielt sich etwas anderes ab: Die ironische Distanznahme setzt künstlerisch stillschweigendes Einverständnis des Publikums voraus. Es bricht nicht das Selbstverständliche, sondern setzt es voraus. Das laute Nichts scheint verständlich, die Sprache der Musik wird als intakt vorgestellt, die Zuckungen und Krämpfe werden zur Virtuosität verklärt, Sprachlosigkeit wird ideologische Selbstvergewisserung einer Gemeinschaft, die sich vor der Wirklichkeit fürchtet. Bis zur obersten Stelle plappern Kritiker von der sogenannten ästhetischen Überforderung, mit der Walshe der Realität des Informationszeitalters und seiner Aufmerksamkeitsspannen künstlerische Entsprechung geben würde. Sie existiert nicht. Gegenüber der Geschwindigkeit, in der wir etwa auf Social-Media in aller Selbstverständlichkeit Informationen verarbeiten, sind die Ergüsse von Walshe meditativ. Minor Characters ist keine Provokation, sondern ein Safespace. Künstlerische Nachahmung scheitert immer, wenn die Realität radikaler ist als die Kunst. Der einzige Moment, in dem diese Radikalität gestriffen wird, ist ein ASMR-Zwischenspiel in der Mitte des Stücks, wenn unter naher Mikrophonierung die ansonsten ungestalteten Klänge Outdoor-Utensilien ausgepackt werden (unpacking-ASMR). Diese Nachahmung ist insofern transzendent, als sie das Prinzip der Nachahmung selbst untergräbt: Ähnlich der musique concrète findet keine Nachahmung statt, sondern das Nachgeahmte wird in seinem scheinbaren Sosein belassen.
Künstlerisch transzendentes Moment von Nachahmung
Künstlerisch transzendentes Moment von Nachahmung kam auf in der choreografischen Komposition Growing Sideways von der Wiener Gruppe „andotherstage“. Wenn in der Choreografie von Brigitte Wilfing alle szenisch-musikalischen Akteure auf der Bühne sich wie Vögel bewegen, wird diese Imitation zugleich Entfremdung des Menschlichen in Zuckungen und Krämpfen. Wenn die Utopie im digitalen Zeitalter als Ideal produzierter Natur mit dem üblichen Mittel des Vogelgesangs durch Lautsprecher dargestellt wird, so nur indem dieses Ideal zugleich überfrachtet wird: Die Nachahmung der Vogelgeräusche durch die Performer wird durch Zuspiele verdoppelt und reichert sich an mit den Klängen einander biotopfremder Vögel: Chiong beschrieb uns dieses zugleich absurde und schmerzhafte Vorgehen: „Wie macht man eine Collage von Vogelgesängen? Am besten nicht zu gut!“ Die u-topische Soundscape der entwurzelten Vervielfachung der Arten gesellt zu Möwen und Hähnen den Vogel-Strauss und Pinguine. Das Klischee wird in Anschlag gebracht und gebrochen. Während Walshe den Fortschritt anbetet und ihm wörtlich hektisch hinterherhechelt , steht dieser in Frage und wird – etwas plakativ, was aber in diesem Stück, das eher aus dem Handgelenk kommt, auch gut ist – ebenso aufgeworfen: „we looked forward with a sense of growing backwards. […] We grew backward with forward progressive feeling.“ Die Regression bleibt unbewusst, weil sie sich zwanghaft und nervös als Fortschritt kleidet. Was bei Walshe rituelle Selbstversicherung ist bei andotherstage Kritik des Rituals: Das virtuose Flexen des Perkussionisten wird ebenso ausgestellt wie das DJ-ing von Chiong, das den Techno ebenso wie den Starkult des Musikbetriebs als zeitgenössisches Pendant des Rituals darstellt. Aufklärung kehrt sich in Mythos, wenn auf der Technoparty zugleich jeder für sich allein tanzt und doch alle dasselbe tun. Es ist die verwaltete Musik zum Tod des Individuums, das Wilfing in ihren Lautgedichten nochmal wörtlich zerlegt: „We only dance dindividi dancers to electronic music.“ Wieder begegnen wir den Zuckungen und Krämpfen gegenwärtigen Selbstausdrucks. Am Höhepunkt, Trommelwirbel und archaische Technobeats: profane Saalbeleuchtung. Wenn im Club das Licht angeht, wenn in den Blicken der Warriors of Joy die Ektase der Nacht sich blitzartig in der endlosen Leere der Augenhöhlen verliert, mag letztes bitteres Überbleibsel von Aufklärung sein.
Der nervöse Strom unbewussten Ton- und Stimmgewusels
Der nervöse Strom unbewussten Ton- und Stimmgewusels erfuhr eine wesentliche Unterbrechung. Es ist ein anderer Umgang mit der musikalischen Sprachlosigkeit möglich. Statt das Gehör mit dem Geplapper, das die Sprachlosigkeit übertönt, zu verstopfen, ist sie, die Sprachlosigkeit selbst, zu Gehör zu bringen. Dust Book ist ein Buch aus fünf Stücken für Viola d’amore, das Evan Johnson für den Bratschisten Marco Fusi komponiert hat. Das Werk besteht etwa zur Hälfte der knappen Stunde seiner Dauer aus Stille. Schon das ist Balsam. Die Stille ist aber nicht konzeptueller Insider oder mystizistischer Effekt, sondern musikalische Notwendigkeit: Die Stillen Phasen trennen und verbinden hauchdünne, flüchtige und kaum greifbare Klangpartikel, winzige, wie versehentliche Aktionen des Musikers, der sie zögerlich und bedacht ausführt. Die große Spannung zu halten ist für alle Beteiligten körperliche Anstrengung, die sich im Stück konzentriert. Die leiseste Artikulation und jede Zuckung in ihrer unscheinbaren Besonderheit erhält auf dem Soloinstrument die schärfste Aufmerksamkeit und den Raum, dessen sie bedarf. Und dabei sind die winzigen Partikel musikalischer Gesten noch kürzer als die 1,5 Sekunden, die wir uns durchschnittlich nehmen, um einen Instagrampost zu rezipieren. Vielleicht gibt gerade der flüchtige Stillstand des dust book eine angemessen radikale Antwort auf die Inflation der Aufmerksamkeitsdauer in Zeiten der durch Social Media und Streaming geformten ästhetischen Wahrnehmung. Eine Antwort deshalb, weil sie die Fähigkeit zur musikalischen Erfahrung überhaupt nicht nur in Frage stellt, sondern zugleich diese Frage selbst in musikalischer Gestalt erfahrbar macht. So die Möglichkeit musikalischer Erfahrung nicht Voraussetzung dieses Stückes, sondern es ist selbst Arbeit an ihrer Bildung. Statt mit Pseudo-Überwältigung die Ohren zu überschütten, wird hier der winzigen, reduziertesten und leisesten Artikulation auf dem Soloinstrument der größte Raum zur Entfaltung, die schärfste Aufmerksamkeit geschenkt. Der Titel von Jennifer Walshes unnötigem Streichquartett „Everything is important“ (2016) ist hier ins Gegenteil gekehrt: Hier erhält wirklich jede Zuckung in ihrer unscheinbaren Besonderheit den Raum, dessen sie bedarf, um wahrgenommen zu werden. Dieses Stück gibt keine Sprachgemeinschaft vor, unterstellt nicht Selbstverständlichkeit, sondern geht im Gegenteil sowohl von der eigenen Sprachunfähigkeit wie von der Unfähigkeit zur Erfahrung des Publikums aus – und beides wohl zurecht. Es bedarf der großen Pausen, um auch diese winzigen, kaum als solche identifizierbaren Klänge wahrzunehmen und die Relation zwischen ihnen zu erfahren. Dies wäre verkannt und ins Gegenteil verkehrt, wenn wir in dust book wieder nur noch eine Metaphysik der Stille hören wollten. Die Stille wird hier nicht mystifiziert oder mit besonderer Bedeutung aufgeladen, sondern sie ist nichts mehr als der gestaltete Raum zwischen den erklingenden musikalischen Partikeln, der Raum, in der sich die Verbindung zwischen den gespielten Klängen herstellt, in dem der letzte Klang verarbeitet und der nächste erwartet wird und in dem sich das Verhältnis zum Ganzen reflektiert. Diese komponierten Zwischenräume sind nötig, um die klanglichen Ereignisse wahrzunehmen und zur Erfahrung zu bringen.
Die Partitur arbeitet in neurotischer Präzision
Die Partitur arbeitet in neurotischer Präzision mit Stimmung, Dämpfung und den Schwingungsrelationen von Spiel- und Resonanzsaiten und anderen Charakteristika der Viola d’amore (im Gegensatz etwa zur Bratsche) und die kaum wahrnehmbaren winzigen, fast beiläufigen Gesten, von denen oft unklar ist, ob sie überhaupt stattgefunden haben, sind aufs genaueste ausnotiert, sodass Bruchteile von Sekunden aufgeteilt und gestaltet werden in eine Vielzahl von Tonhöhen, überlagerten Rhythmen, dynamischen Verläufen, melodischen Figuren und ineinander übergehende Gesten aufgeteilt und noch explizit unhörbare Klänge und Pausen sind mit gestalterischen Angaben wie crescendi versehen. Das Stück ist in diesem Sinne also nicht minimalistisch. Es baut nicht die Komplexität und den Reichtum der Sprache ab. Sondern es komponiert selbst den Raum, dieser Sprache Gehör zu verschaffen.
Die Sprache der Neuen Musik als kulturindustrieller Sparte nimmt als Selbstverständlichkeit, was das dust book in winzigen Schritten zu erarbeiten sich vornimmt: Die Möglichkeit musikalischer Erfahrung unter den heutigen Bedingungen von Kulturindustrie. Diese Möglichkeit ist nicht kommunizierte Vermittlung, sondern bleibt intransparent und unbewusst. Das ist zugleich die Chance, die Unmöglichkeit von teilbarer Erfahrung selbst zur geteilten Erfahrung zu machen und sich ihrer bewusst zu werden. Dieses Bewusstsein könnte die Grundlage einer neuen Musik sein.
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