Es gibt die offensichtlichen Lügner: etwa George Bush den Älteren, der seinerzeit einen Wahlbetrug mit einem ans Archaische appellierenden Verweis auf seinen Lippen, die nicht trügen könnten, verband: „Read My Lips!“ (er wurde abgewählt).
Es gibt die unschönen Lügen: etwa wenn bei der Gesundheitsreform die „demographische Entwicklung“ und der „wissenschaftliche Fortschritt“ dafür herhalten müssen, die Betriebe auf Kosten der Privaten, die Reichen auf Kosten der Armen und die Gesunden auf Kosten der Kranken zu entlasten (das führt zu Verbitterung).
Es gibt die perspektivischen Wahrheiten, die fatalerweise dazu führen, dass die „anderen“ sie nicht teilen können und zu Feinden werden müssen. Auf dem Balkan etwa, vielleicht auch zwischen „dem Westen“ und den islamischen Ländern wird der Krieg weitergehen, es sei denn man findet zu einer gemeinsamen Erzählung, in der alle mit ihren Erfahrungen und Interessen vorkommen.
Und es gibt die Moral, man könnte auch sagen: die maskierte Lüge. Die Allzweckwaffe bei der möglichst rücksichtslosen Durchsetzung der eigenen Position. Demokratische Gesellschaften mit ihrem multimedialen Dauer-Brainstorming sind da gegenüber autoritären und diktatorischen im Vorteil: das zeigen die Erfolge der „Menschenrechts“-Waffe gegen diverse „Reiche des Bösen“.
Nirgends ist der Triumph des Guten aber so tückisch und schlüpfrig wie dort, wo die meisten Spezialisten des schönen Scheins am Werk sind: Im Bereich der Kultur. Immer dann, wenn diese „Kultur“ zur Einkommensquelle (möglichst auf Dauer!) wird.
Im Grunde ist die Sache klar: jedes soziale System kennt einen Zustand höchster Einkommens- und Verteilungseffizienz; man nennt ihn nach dem italienischen Soziologie-Klassiker Vilfredo Pareto „pareto-optimal“. Ist ein solcher pareto-optimaler Zustand erreicht, dann kann ein Einzelner (oder eine Gruppe) nur noch besser gestellt werden, wenn man einen anderen Einzelnen (eine andere Gruppe) schlechter stellt. Der coole Pareto beschreibt ziemlich genau den Kampf um die Fleischtöpfe, jedenfalls wenn sie notorisch knapp sind. Und er sagt klar und unverblümt, was „Sache“ ist: dass wir alle zusammen ein Interesse haben (oder jedenfalls haben können), einen pareto-optimalen Zustand zu erreichen; dass es aber in einem pareto-optimalen Zustand keine gemeinsamen Interessen geben kann.
Merkwürdigerweise wird es genau dann besonders „moralisch“, wenn es nichts mehr zu verteilen gibt. Sind die „Kulturkämpfer“ so kindisch-unwissend, so egoman oder so tückisch, dass sie die Bedienung des eigenen Interesses auf Kosten der Interessen anderer für eine Sache der Moral halten? Ja, der Haifisch, der hat Zähne und die trägt er im Gesicht; alle können sie sehen, niemand macht sich Illusionen. Die Moral aber ist hinterhältig; sie veranstaltet ihre Blutbäder im Schutz von Bündnissen, Netzwerken und universalistischen Diskursen.