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Carl Orff erhitzt die Gemüter. Was war er nun: Nazi, Mitläufer, Nutznießer, innerer Emigrant oder gar Widerstandskämpfer? Der amerikanische Historiker und Nationalsozialismus-Experte Michael H. Kater hatte in der Januar-Nummer 1995 der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte behauptet, Orff hätte sich nach dem Krieg als Mitbegründer der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ ausgegeben, um sich Vorteile in der Beurteilung beim ICD Screening Center zu verschaffen. Durch bewußt falsche Behauptungen sei ein beschönigtes Bild gegenüber den Entnazifizierungs-Instanzen gezeichnet worden. Dies Bild wurde von Kater gleich wieder zurechtgerückt. Ohne zwar Nazi zu sein, habe sich Orff mit dem System so arrangiert, daß er sich mit Ellbogenmentalität und ohne Skrupel alle Vorteile zu verschaffen wußte. Daran ist wohl ein gutes Stück Wahrheit, wobei über den Grad der Orffschen Berechnung und List wohl zu debattieren wäre. Daß er aber wirklich seine Mitgründerschaft der Weißen Rose behauptete (Orff war daran effektiv nicht beteiligt, aber ihn verband eine völlig unpolitische Freundschaft mit Professor Kurt Huber, der dieser Gruppe angehörte), steht nicht fest. Aus den wiederaufgefundenen Protokollen des ICD Screening Centers ist diese Behauptung keineswegs ablesbar, und so fühlte sich das Münchner Orff-Zentrum auf den Plan gerufen, Kater mittels einer Pressekonferenz in die Schranken zu weisen. Alles ging nach erprobten Formen wissenschaftlichen Hahnenkampfes. Glaubwürdigkeit wird in Frage gestellt, Argumentationslöcher werden aufgedeckt, der nötige Sachverstand wird angezweifelt. Und schon ist man dort, wo zur Klärung nichts beigetragen wird. Gestritten wird über die Existenz einer Aussage, als ob in ihr, in ihrer Verifikation oder Falsifikation, die letzte Beweiskraft läge. Der Schauplatz dieser Auseinandersetzung verdrängt die Suche nach Wahrheit und ihrer Aufarbeitung. Denn Wahrheit, das ist ja nicht nur das kleine Feld der nachweisbaren Fakten, sie umfaßt den ganzen Komplex eines im emphatischen Sinne aufrichtigen schöpferischen Tuns und Lebens. Viel wichtiger als das einzeln Faktische wäre eine Verstehen solcher Zusammenhänge.
Frau Elisabeth Hartmann, die Witwe des Komponisten Karl Amadeus Hartmann (an seiner antinationalsozialistischen Haltung besteht kein Zweifel), hat mir einmal erzählt, daß ihr Mann Mitte der 30er Jahre Orff die Partitur zur widerständigen Antikriegsoper „Simplicius Simplicissimus“ gezeigt habe. Orff sah das Werk durch und merkte an, daß es in diesen Zeiten wohl keine Chance habe, gespielt zu werden. Ja, schon der Versuch, damit an die Öffentlichkeit zu kommen, sei selbstmörderisch. Das war Hartmann freilich selbst klar.
Bemerkenswert daran ist, daß Hartmann sich mit seinem Komponistenkollegen Orff austauschte, daß er sogar dessen Rat suchte und ihm auch vertrauen konnte. Und Orff war sich andererseits über die schöpferischen Bedingungen im Dritten Reich durchaus im klaren. Da gab es nichts Blauäugiges: Man wußte um die Bedingungen und danach richtete man sich aus – jeder, wie er es für richtig hielt. Hartmann blieb seiner Musiksprache und seiner Haltung treu (beides ist nicht ohne weiteres zu trennen). Orff aber, der Spruch vom „Sich-an-die-Decke-Strecken“ galt damals wie heute (damals existentieller), dachte kompositorisch um.
Aus den mißtrauisch beäugten, eher frech denn wirklich kühn neutönerischen frühen Arbeiten, sie wurden später als eine Jugendsünde abgetan, wuchs ein Stil, der sich den Verhältnissen anpaßte. Die nicht zu leugnende Kunst Orffs war, daß er die Spannweite genau auszuloten verstand. Es genügte ihm nicht, probat handlangende Musik einer pathetischen Spätromantik zu schreiben. Vielmehr bog er die Kriterien der im faschistischen Sinne Nicht-Entartung so, daß eine musikalische Sprache herauskam, die den Spagat zwischen den nationalsozialistischen Vorgaben, Innovation und Resonanz des Publikums genau zu spreizen verstand. Ist das nun geniales Handwerk, verächtliche Anbiederung, oder ist es gar der notwendige Prozeß einer ohnehin nie unbeeinflußten schöpferischen Selbstfindung?
Merkwürdig: Im gleichen Jahr, als Orff sein Wendewerk „Carmina Burana“ schrieb, entstand in der Sowjetunion ebenfalls unter ästhetischer Doktrin Schostakowitschs fünfte Sinfonie. Beide Werke sind bis heute die bekanntesten dieser Komponisten. Warum dem so ist, steht immer noch zur Klärung an. Vielleicht wäre das für ein kritisches Begreifen der menschlichen und schöpferischen Umstände in der Diktatur notwendiger als die forsch ausgetragenen Randgefechte, die sich wohl im Gestrüpp verlaufen. Vor allem würde dadurch auch unser Verständnis vom künstlerischen Sollen und Wollen neu befragt.