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Moritz Eggert am Klavier. Foto: Hufner
Moritz Eggert am Klavier. Foto: Hufner
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Aufräumen im Notenwald

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Absolute Beginners 2019/11
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Mal eine Frage an die Eltern unter den Lesern: was geht schneller, a) Unordnung in ein Kinderzimmer zu bringen, oder b) ein Kinderzimmer aufzuräumen? 

Wer mit b) geantwortet hat, lügt – ein Chaos zu beseitigen ist immer aufwändiger, als ein Chaos zu erzeugen. Musik ist von Natur aus „chaotisch“ – eine Komposition wächst oft wie ein Baum, in viele Richtungen gleichzeitig, vorwärts und zurück zur selben Zeit. Das ist erst einmal richtig, weil Kunst wild und unbändig sein muss. Beim Komponieren suchen aber gerade junge Komponisten oft unnötiges Chaos, weil es „komplexer“ aussieht als dessen Abwesenheit. Die Partitur, die voller Noten, Spielanweisungen und verschobener Einsätze ist, sieht mehr nach „getaner Arbeit“ aus, wird vielleicht aufgrund ihrer Übergröße bewundert, kann Lehrer und Kollegen beeindrucken. Noch beliebter ist Komplexität, die nach einem „System“ aussieht.

Mit der Zeit bekommt man als Komponist einen Blick für solche „Fake“-Partituren – man erkennt die Tricks, mit denen Komplexität mit zum Teil ganz simplen Mitteln erzeugt wird. Nur ein Beispiel: ein zerfaserter Einsatz mehrerer Streicherstimmen könnte wahrscheinlich relativ leicht mit 16tel-Abständen realisiert werden, sieht aber einfach „besser“ aus, wenn die Instrumente zum Beispiel in 32stel-Septolen und 64stel-Quintolen einsetzen. Dann muss man nämlich plötzlich komplexe Pausen notieren, die mehr Zeichen erfordern. Akustisch ist der Unterschied meist nicht zu erkennen, auf dem Papier sehen aber die Septolen und Quintolen wegen der zusätzlichen Klammern komplexer und „beeindruckender“ aus, ohne künstlerischen Mehrwert zu erzeugen.

Beliebt ist auch die Überbezeichnung von winzigen aufeinanderfolgenden Aktionen bis hin zur Redundanz,etwa Töne, die gleichzeitig laut, leise, legato, tenuto, fortepiano und staccato gespielt werden sollen, oder schlimmeres. Nicht nur ist das oft sinnlos, es gängelt auch die Interpreten auf eine Weise, die ihnen jegliche Eigenverantwortlichkeit abnimmt.

Der Trick ist natürlich, dass zusätzliche Vortragsbezeichnungen und komplizierte Pausen im Grunde sehr leicht von der Hand gehen. Man kann also Komplexität erzeugen, ohne weitere kreative Leistungen zu vollbringen, es reicht ein Repertoire von einigen notationstechnisch aufwändigen Spieltechniken und typischen komplex aussehenden Zeichen um eine relativ leere Notenseite „schwarz“ und damit „bedeutender“ zu machen. Das ist dann ungefähr so kreativ wie Malen nach Zahlen, hohles Handwerk ohne echten künstlerischen Wert. Tatsächlich ist es viel leichter, eine komplizierte Partitur zu schreiben, als sich auf das Wesentliche zu reduzieren und mit jedem Ton Bedeutung zu erzeugen. Beet­hoven zum Beispiel verbrachte wesentlich mehr Zeit damit, seine Melodien auf das Wesentliche zu reduzieren, als sie wohlfeil auszuschmücken. Letzteres wäre ihm sicher viel leichter gefallen.

Wenn man alle diese Tricks kennt, reduzieren sich viele Partituren zu einer Handvoll von viel zu wenigen Ideen, die eher hohl anmuten. Manchmal sieht man sogar Stücke, die nur eine einzige Idee haben, diese aber immer wieder neu komplex aufbauschen, sodass es möglichst beeindruckend aussieht. Auch ein guter Architekt kann relativ schnell erkennen, wenn ein Gebäude mit ein bisschen Fassadenzauber nach „mehr“ aussehen soll, aber in Wirklichkeit uninspiriert ist. Bei Komponisten gilt oft: je weniger Zeit sie haben, desto mehr Noten werden geschrieben, wenn sie dagegen viel Zeit haben, wird produktiv gehadert, ausgedünnt und kritisch bewertet. Letzteres ist natürlich viel schwerer und manchmal quälend. Nicht umsonst haben relativ präzise Komponisten wie Stravinsky relativ wenig geschrieben. Aber wer hat behauptet, dass Komponieren ein Kinderspiel sein soll?

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