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The Faggots and Their Friends Between Revolutions © Camilla Greenwell

The Faggots and Their Friends Between Revolutions © Camilla Greenwell

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Bechers Bilanz – August 2024: Ein Sommer mit Anton Bruckner

Vorspann / Teaser

Der 200. Geburtstag von Anton Bruckner belebt vor allem den Tonträgermarkt. Neben den Neuerscheinungen von François-Xavier Roth und Christian Thielemann haben gerade Markus Poschner, das RSO Wien und das Brucknerorchester Linz ihre bei Capriccio erschienene Einspielung aller Symphonien inkl. Alternativversionen abgeschlossen (insgesamt 18 Werke). Im Konzertsaal erklingt dagegen die immergleiche Mini-Auswahl aus dem ohnehin überschaubaren Schaffen dieses erratischen Komponisten. Auch im Sommer 2024.

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Grafenegg: Bruckner ohne Nebel
Simon Rattle mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

An einem dieser mediterran wirkenden Augustabende, es ist der 30., dirigiert Sir Simon Rattle das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Grillen zirpen, Fledermäuse flattern, über der Bühne buckelt der Beton des „Wolkenturms“ in den Himmel von Grafenegg. Rattles Bruckner ist filigran, kristallin, keck. Wir hören eine Vierte Symphonie ohne Nebel, auch wenn die formidablen Blechbläser – Männer mit Nerven aus Stahl – es krachen lassen, wo die Partitur es verlangt, also oft. Akustisch lässt das niederösterreichische Open-Air-Festival keine Wünsche offen, aber einen Mischklang bekommt man nicht, und schnell rächen sich Unsauberkeiten in den Streichergruppen. Nicht bei den Münchnern, und die Bratschen verdienen eine Extra-Umarmung für ihr atemberaubendes Spiel im langsamen Satz. Das Konzert eröffnet Rattle mit Thomas Adès, den er (wie 2002 in Berlin) in die Chefposition seines neuen Orchesters eingebracht hat: Das viertelstündige „Aquifer“ ist ein anschmiegsames Werk, in dem aufragende Bläserriffs seufzende Streicherlinien durchkreuzen, Banalität nicht meidend, aber erfrischend unpathetisch. 

Ruhrtriennale: Fröhliche und erotische Utopie
The Faggots and Their Friends Between Revolutions

Das Manifest der späteren LGBTQ-Bewegung wurde 1977 von dem Amerikaner Larry Mitchell verfasst: „The Faggots and Their Friends Between Revolutions“ feiert das queere Leben in der Nische. Eine fröhliche und erotische Utopie aus antikapitalistischer Perspektive, ein Roman für alle, die anders leben oder davon träumen. Für die Ruhrtriennale, das Festival d’Aix-en-Provence, die Bregenzer Festspiele, das Holland Festival und andere mehr bringen Philip Venables und Ted Huffman das Kultbuch mit Lust und Tempo auf die Bühne. Das Schimpfwort „Faggot“ avanciert zum Ehrentitel, die Besucher bittet man um „diskriminierungssensible Verwendung“. In der Jahrhunderthalle Bochum fegt am 20. August das Ensemble aus Musiker:innen, Sänger:innen, Tänzer:innen und Performer:innen entfesselt über die Bühne, die Performance-Fläche und offene Garderoben vereint. Es gibt ein hinreißend moderiertes Sing-Along im halbvollen Saal, einen Rap im Stroboskop-Geflacker, einsame Arien und viele Barock-Instrumente. Das Ensemble setzt mehr auf Zärtlichkeit, denn auf revolutionären Furor, auch wenn die Konfrontation von bösen (heterosexuellen) Männern und guten „Faggots“ mehr zu einem unterkomplexen Fantasy-Roman passt. Dass aber die letzte Perfidie darin besteht, die „Faggots, Queens und Fairies“ durch Zugeständnisse in die genormte Bürgerlichkeit einzugemeinden, stimmt dann doch nachdenklich. 

Berlin: Young Euro Classic
Jugendgrüße aus Tschechien

Andere Musikmetropolen mögen ihren Sommergästen Musical en suite oder Mozart-Maskeraden zumuten. Berlin ist anders und mit Young Euro Classic außerordentlich erfolgreich. Seit 25 Jahren besuchen in der Spielzeitpause internationale Jugendorchester das Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Der im April verstorbene Dieter Rexroth – ein Dramaturg und Denker, ein Intendant und Inspirator, ein Vorbild, auch für mich – prägte das Programm dieses europaweit einzigartigen Festivals. Sein Credo: keine gewöhnlichen Tourneekonzerte, sondern ausgesuchte Stückfolgen, und das Abend für Abend. Als ich vor über 15 Jahren das Festival kennenlernte, war das Publikum im Saal nur wenig älter als die Musikerinnen und Musiker auf der Bühne, und die Leidenschaft hier spiegelte sich im Jubel dort. Ein erneuter Besuch am 17. August zeigt an, dass das jugendliche Publikum weitergezogen sein könnte, aber stark besucht ist das Konzerthaus noch immer (trotz weitläufiger Absperrungen auf dem Gendarmenmarkt). Das tschechische Ševčík Academy Orchestra gastiert unter seiner Landsfrau Alena Hron, die aus Marin Alsops Talenteschmiede Taki Alsop Conducting Fellowship stammt. Von Smetanas „Moldau“ über Antonín Dvořák bis hin zu Bohuslav Martinů präsentieren die jungen Musikerinnen und Musiker die großen Heroen der tschechischen Musik – bis hin zu einem nagelneuen Cellokonzert von Jiří Teml und der „Suita Rustica“ von Vítěslava Kapralová. Die Komponistin wurde nur 25 Jahre alt, hinterließ aber 50 Titel, darunter dieses funkelnde, 1938 geschriebene Orchesterwerk, das aufgeraute Folklore mit dem Esprit eines Strawinsky kombiniert. Das Konzert kann man in der Mediathek von Deutschlandfunk Kultur nachhören, die Orchesterwerke von Vítěslava Kapralová hat Alena Hron für cpo eingespielt.

Köln: Ariadne aus Neanderthal
Hybridinstrument in der Musikfabrik

Die estnische Komponistin Monika Mattiesen hat der Musikfabrik eine Musikmaschine gebaut, ein „Hybridinstrument“. Darin bringen Versatzstücke aus altvertrauten Instrumenten neue Klänge hervor. Das dreiviertelstündige „Ariadne aus Neanderthal“ ist selbst ein Hybrid: Mystische Erzählung gleitet in Zivilisationskritik über, wobei Urmutter Ariadne jene Seelen rettet, die weder von weiblichen noch männlichen Anteilen okkupiert werden. Oder so ähnlich. Man hätte gern mehr von Textdichter Hasso Krull erfahren, aber das Einführungsgespräch mit ihm und der Komponistin blieb inhaltlich, akustisch und phonetisch unverständlich. Anders die Musik: Matthiesen setzt auf Schichtung statt Polyphonie, auf Repetition statt Rhythmus. Die artifizielle und schöne Konstruktion des Hybridinstruments kontrastiert mit der Tendenz zu vormusikalischem Atmen und Klappern. So entsteht eine Atmosphäre, aus der tief vergrabene Bilder emporsteigen. Die Geigerin Hannah Weirich und ihre Mitstreiter (Marco Blaauw, Carl Rosman, Benjamin Kobles) tragen viel dazu bei, dass die Spannung anhält, klettern auf das Stahlgerüst, singen sogar (die berührendsten Stellen des Abends) und ernten am 23. August im Kölner Probensaal des Ensembles den Applaus des beglückten Publikums.

Eduard Steuermanns Briefwechsel
Der Maschinenraum der Schönberg-Schule

Eduard Steuermann war der Pianist der Wiener Schule. Alles, was Schönberg für Klavier schrieb, hat Steuermann aufgeführt (vieles davon zum ersten Mal) und eingespielt. Außer dem Geiger Rudolf Kolisch und dem Dirigenten René Leibowitz kam kein anderer Musiker der Zwölftonmethode so nahe – das bezeugen auch die Kompositionen Steuermanns. Martin Zenck und Volker Rülke haben die Briefwechsel Steuermanns mit Schönberg, Adorno und Leibowitz in der edition text + kritik veröffentlicht: ein Blick in den Maschinenraum der Moderne, in dem es viel zu organisieren gibt, manchmal technisch wird und einige Male auch so heiß, dass man sich verbrennen könnte. Denn wo Schönberg Vertrauen fasste, wuchs auch seine Paranoia vor Illoyalität. 730 Seiten umfasst der Band (inkl. CD mit Kompositionen Steuermanns und ein umfangreiches Personenglossar), mehr als die Hälfte des Textes stammt von den Herausgebern, die nicht nur die Briefe umfangreich kommentieren, sondern sie auch in kenntnisreichen Essays einordnen und vor Abstechern in ästhetische und kulturhistorische Seitentäler nicht halt machen.