Demokratie, auf deutsch „Volksherrschaft“, ist bekanntlich ein dehnbarer Begriff. Sie funktioniert am besten in überschaubaren Verhältnissen, vom Verein über das Quartier und die Region bis zum Kleinstaat. In einem supranationalen Konstrukt wie dem, was heute „Europa“ genannt wird, ist es schon etwas schwieriger. Da gibt es das mit bunten Fähnchen geschmückte EU-Parlament, bei dem man alle fünf Jahre einen Stimmzettel einwerfen darf, und das Brüsseler Kommissariat (ohne Fähnchen), das der in Berlin lebende Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann auch schon mal „Oberster Sowjet“ genannt hat.
Es gibt aber auch den Eurovision Song Contest, der jährlich im Mai in einem anderen Land ausgetragen und per Fernsehen europaweit übertragen wird (mit Fähnchen). Auch hier darf man abstimmen: Per SMS kann jeder Zuschauer der Gruppe seiner Wahl die Stimme geben. Der Wettbewerb ist die bunte kulturelle Creme auf der trockenen EU-Einheitstorte, und ich muss gestehen, dass er mir von allen drei Einrichtungen die sympathischste ist. Es ist zwar auch ein Mega-Event, doch die kulturellen Unterschiede werden hier nicht administrativ begradigt. Und da auch Nicht-EU-Staaten und die angrenzenden Länder im Osten teilnehmen dürfen, ist eine farbige Show mit ganz unterschiedlichen Musikstilen garantiert.
Von 42 Teilnehmerländern kamen 25 ins Finale. Das gigantische Live-Spektakel, diesmal aus Moskau, lockte 120 Millionen Menschen vor den Fernseher, auf der Riesenbühne blitzte, flimmerte und dampfte es in sekundengenauem Timing. Die durchcomputerisierte Illusionsmaschinerie lief auf Hochtouren. Das Resultat: Ein multimediales Gesamtkunstwerk von höchster technisch-ästhetischer Perfektion, das die Glitzerwelt des Pop in den Rang eines ultimativen Rituals für Auge und Ohr erhob. Kulturkritiker mögen hier die Stirne runzeln: Bewusstseinsvernebelung, Manipulation, faschistische Ästhetik! Doch wenn man schon adornitisch argumentiert, so sollte man überlegen, ob dieses Medienspektakel dem „aktuellen Stand des Materials“ nicht vielleicht doch gerechter wird als all die braven, sich experimentell gebenden Computerbasteleien, die heute die Neue-Musik-Festivals mit dem Mehltau der Langeweile zu überziehen pflegen. Kritik braucht das nicht auszuschließen. Obwohl sich bei den Produktionen von Portugal bis Russland, von Island bis Israel das Englische immer mehr als Lingua franca durchsetzt, denn man will ja in die internationalen Charts kommen, so herrschte doch große musikalische Vielfalt. Aus dem Osten kam heißer Folklore-Pop: ein körperbetontes Liebesduett aus Aserbaischan (3. Rang), eine fulminant singende und ebenso mit den Hüften wackelnde Türkin (4.), ein gesungener Reigentanz aus Moldawien (14.). Aus dem Westen einige ambitionierte, ganz auf eine Person zugeschnittene Nummern, so aus Frankreich ein Chanson mit Patricia Kaas (8.) und aus England eine Komposition von Andrew Lloyd Webber (5.). Prestige-trächtige Individualkunst West gegen durchschlagskräftige Vitalität Ost.
Im Vorfeld hatte es das übliche Gerangel hinter den Kulissen gegeben. In den letzten Jahren waren stets die Osteuropäer auf die besten Plätze gewählt worden. So viel direkte Demokratie kam den Organisatoren unheimlich vor, und man beschloss eine Regeländerung: Die Publikumsvoten sollten durch professionelle Länderjurys „korrigiert“, die vermuteten Absprachen unter den östlichen Nebenvölkern durch administrative Schachzüge zugunsten der alteuropäischen Kings of Music Business abgewehrt werden. Doch nach wie vor gibt das internationale Publikum der ungekünstelten Musikalität den Vorzug, und diese kommt nun eben mal zumeist aus dem Osten. Dass schließlich der erste Preis nach Norwegen ging, hat auch damit zu tun. Der 23-jährige Alexander Rybak sang und geigte sich mit seinem selbstkomponierten Lied „Fairytale“ (Märchen) in die Herzen der Zuschauer und eroberte mit 387 Punkten das beste Resultat in der Geschichte des Wettbewerbs. Rybak, Typ fröhlicher Junge mit rundem Schnurrekaterkopf, ist Sohn weißrussischer Immigranten und war unter anderem schon Konzertmeister des Jugendorchesters in Bergen. Sein Erfolg verdankt sich dem geradlinigen, kraftvoll-zupackenden Gestus der Komposition und der Tatsache, dass Rybak im Vortrag und in der Choreographie auf allen Schnickschnack verzichtete.
Der deutsche Beitrag „Miss Kiss Kiss Bang“ floppte einmal mehr. Sex sells, hatten sich die Macher wohl gedacht und in eine Retronummer mit Big-Band-Sound der 50er-Jahre den Auftritt der amerikanischen Sexpuppe Dita von Teese eingebaut. In den Verwaltungsetagen des für den deutschen Beitrag verantwortlichen NDR mag diese Art von Altherrenfantasie vielleicht noch Anklang finden. Doch beim Fernsehzuschauer zwischen Atlantik und Ural kam die Plastikerotik leider überhaupt nicht an – Platz 20 von 25 für Germany.