So viel Kriegsende war noch nie. Hier also was anderes, nämlich der Nachkriegsanfang. Für die Musik war das ein bedeutendes Datum. Weniger wohl für die anderen Kunstrichtungen: zum Beispiel fand Adornos Diktum, dass nach Auschwitz kein lyrisches Gedicht mehr geschrieben werden könne, in der Literatur kaum einen nachhaltigen Niederschlag. Und kann man in der Malerei einen durchschlagenden Wechsel nach dem Zweiten Weltkrieg festmachen? In der Musik war das so.
Vor allem in Deutschland mit Donaueschingen und Darmstadt wurde Tabula rasa gemacht – nicht nur von deutschen Komponisten, aber Boulez, Nono, Cage oder auch Ligeti kamen hierher und tauschten sich aus, wie auf grundlegend neuer Basis in Musik zu denken sei (anders als in der „Gruppe 49“, die auf der einen Seite vornehmlich deutschen Autoren vorbehalten war, die auf der anderen Seite kaum über ein neues Basismaterial des Schreibens debattierte).
Musik ist eben anders, sie unterliegt anderen Produktions- und Reproduktionsbedingungen als die weiteren Künste. Und nach 1945 gab es einen gewaltigen Freiraum. Zum einen waren die alten Nazis, wie etwa der für die Entartete Kunst/Musik-Ausstellungen im Dritten Reich verantwortliche Hans Severus Ziegler, für einige Zeit zum Schweigen gebracht (oder sie waren damit beschäftigt, sich neue, entnazifizierte Positionen zu schaffen), zum anderen standen die Produktionsmittel, also zum Beispiel die Orchester vor allem in den neu etablierten und modellhaft gedachten öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten, der Neuen Musik offen, da jeder Einwand dagegen in dunkle Vergangenheit gewiesen hätte.
Die Komponisten konnten also im Grunde schreiben was sie wollten. Das gaukelten sie sich zwar zumindest seit bürgerlicher Zeit immer vor, aber es war nicht so. Jetzt aber entstand von den jungen Avantgardisten wirklich eine Musik, die von vielen Schlacken gereinigt war. Dass sie dadurch unnahbar wurde, musste die Komponisten damals nicht stören, denn die Vermittlungswege standen dennoch offen. Die serielle Musik tilgte alles Warme, Gefühlige, Ausdrucksintensive aus der alten Musik. Der pure Ton, der pure Klang, das pure Zeitmaß und die klar messbare Intensität standen als einzige in den inneren Zirkeln der Avantgarde zur Debatte. Es war ein Purgatorium im Sinne des Wortes.
Froh konnten die Musiker, die Komponisten auf Dauer damit nicht werden: Schon Ende der 50er-Jahre nagten die Zweifel und die folgende Generation warf alles wieder über den Haufen (oder doch nicht alles? – denn schnell ging den postmodernen Bestrebungen ihrerseits die Luft aus). Aber dennoch hatten sie etwas geschaffen, das die Musik seither kaum mehr ruhen lässt. (Mit Marx könnte man sagen: Sie wussten es nicht, aber sie taten es.) Es entstand nämlich, und erst heute beginnen wir das umfassend zu begreifen, ein neuer Begriff von Musik und von musikalischem Tun. Er beinhaltet, dass kein Musiker einen Ton, einen Klang, eine Lautstärke mehr schreiben kann, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, warum und in welcher Form er einen Ton, einen Klang et cetera schreibt. Helmut Lachenmann hat vielleicht am meisten theoretisch fundiert diesen Vorgang des Neu-Erarbeitens zu seinem Schöpfungsprinzip erhoben – aber am Faktum kommt im Grunde keiner vorbei. Und ein Vorbeimogeln oder ein blindes Nicht-Sehen-Wollen ist zumeist Indiz für Insuffizienzen im musikalischen Produkt. Langsam sind Konturen absehbar, die neue Musik öffnet sich und vielleicht wird man in einigen Jahrzehnten von einem Phönix aus der Asche sprechen. Während die Welt heute, mit welchen Vorgaben, mit welchen Interessen auch immer, des Kriegsendes gedenkt, dürfen wir Musiker (denn an vielen anderen Orten wurde schon bald weitergewurstelt wie davor und wie immer) an ein weiteres Datum erinnern: an den Beginn danach.