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Begriffsgespenster

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Die Neue Musik ist oft eine theorielastige Angelegenheit, was ihr bekanntlich nicht gut bekommt. Eine Komposition, ein Lebenswerk oder sogar eine ganze Musikrichtung können zur klingenden Illustration gut ausgedachter Theoreme degradiert werden – zum Schaden der Musik und des Publikums, das sich aus dem Diskurs ausgeschlossen fühlt. Schlimmer aber sind die Spätfolgen. Was einmal als ambitionierte Theorie oder auch nur als schlaues Trendsetting begonnen hat, endet mit Sicherheit in den Niederungen von nachgebeteten Floskeln und Schlagworten, die sich wie Mehltau über die künstlerischen Impulse der Werke legen.

Das „musikalische Material“, einst vom klugen Adorno in die Diskussion eingeführt, ist so zum Begriffsgespenst geworden. Ähnlich ging es der „gesellschaftlichen Relevanz“, dem „Widerstand“ gegen das „System“ (das dummerweise durch den Subventionsbetrieb repräsentiert wird), der „Neuen Einfachheit“ und „Neuen Komplexität“, der „Medienkunst“ und der „Wahrnehmung“, die unermüdlich „geschärft“ werden soll. Und schon kommt das nächste theoretische Modewort herangeradelt: das „Dispositiv“.

Bezeichnend für all diese Konstrukte ist, dass sie – mit Ausnahme vielleicht des Materials im einstigen Sinn Adornos – nichts über die künstlerischen Aspekte eines Werks aussagen, sondern sich nur an Äußerlichkeiten festmachen: An Oberflächeneigenschaften, an den Werkzeugen, an der Wirkung, am abstrakten Rezipienten. Diskutiert wird nicht über die Sache, sondern über ihre Hülsen.

Das Werk selbst interessiert diese „Theoretiker“ offensichtlich nicht mehr, weshalb sie konsequenterweise auch den Werkbegriff ablehnen. An die Stelle des denkenden, über die bloße Wahrnehmung hinausgehenden Hörens (Nono verlangte noch emphatisch das „Hin-Hören“ – aber das ist lange her) tritt die Tätigkeit des selbstreferenziellen Intellekts. Ihm ist das individuelle Werk nur noch auslösender Reiz und Beweismaterial für Reflexionen technischer, psychologischer oder gesellschaftlicher Art. Wozu also noch hören? Wichtig ist, was auf dem Papier respektive dem Bildschirm steht und auf dem Marktplatz der Begriff­lichkeiten, in Fachzeitschriften und Symposien, erfolgreich unter die Kolleg/-innen gebracht werden kann.

Ein solches Symposium war nun einem Begriffsgespenst gewidmet, das noch immer in der Neuen-Musik-Szene umgeht, obwohl sein altes „Uuuuh-uuuuh“ schon längst zum Geisterbahneffekt verkommen ist: das Experiment. Es bildete die begriffliche Begleitmusik zum Münchner musica viva Festival und sollte diesem wohl eine höhere theoretische Weihe verleihen, obwohl es das musikalisch facettenreiche Programm gar nicht nötig hatte.

Was heißt „Experiment“, ein aus den exakten Wissenschaften entlehnter Begriff, in der Musik? Alles und nichts: John Cage und Neo-Dada der 1960er-Jahre, die Prolationskünste der Niederländer, ein neues Computer-„Dispositiv“, das Herumwandern der Orchestermusiker auf dem Podium, die Skordatur der Geige bei Heinrich Ignaz Franz Biber. Ein Feld der Beliebigkeit tut sich auf, so recht nach dem Geschmack begrifflicher Spekulanten. Heute wird das Schlagwort auf alles appliziert, was in irgendeiner Weise unfertig und bruchstückhaft daherkommt, und eignet sich auch perfekt dazu, Dilettantismus und technologisch lackierten Kitsch jeder Art diskursfähig zu machen.

Mit dem redundanten Symposiumsthema wurde eine Gelegenheit vertan, einmal über die drängenden Fragen der heutigen Musik nachzudenken – Fragen nicht zu den Hülsen, sondern zum kreativen Kern. Dazu nur einige Stichworte: Die Veränderung des Menschenbilds unter dem Einfluss moderner Technologien; das Verhältnis von Inspiration und Technik; die vergessene Frage nach dem Schönen; die Gefährdung der künstlerischen Freiheit durch die normierenden Vorgaben von Auftragswesen und Veranstalterästhetik; die Schwierigkeiten des Nachwuchses, im Überangebot der Techniken und Ästhetiken eine eigene Musiksprache zu finden. In Anbetracht der Ergebnisse des BMW-Kompositionspreises der musica viva, die nach Auskunft von Juroren überaus dürftig waren, wäre gerade Letzteres ein Thema von hoher Aktualität gewesen.

Die Dringlichkeit, über Inhalte und nicht nur über Sekundärdaten nachzudenken, zeigte sich auch bei der Überreichung der Kompositionspreise. Da verrannten sich die drei Institutionsvertreter auf dem Podium in einem Gedankengestrüpp, in dem es vor lauter Paradigmenwechseln, Seinsgründen und liebem Gott nur so blitzte und krachte. Ein bisschen viel für den eher bescheidenen Anlass. Das Bedürfnis nach einer Einbettung der Neuen Musik in einen breiteren Wahrnehmungshorizont in Ehren, aber um neue Orientierungen zu vermitteln, braucht es mehr als ein Begriffs-Dropping vor gutwilligem Publikum. Es braucht vor allem eine entsprechende Musik, und zwar eine heutige.

Wir alle, Komponisten, Interpreten, Veranstalter, Kritiker, Theoretiker und Publikum, haben verlernt, über die geistigen Grundlagen unserer Musik nachzudenken, und deshalb fällt es uns auch so schwer, öffentlich darüber zu sprechen. In diesem Licht betrachtet gleichen Symposien zu Themen wie Experiment dem Bellen vor dem falschen Baum.

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