Zurückgekehrt von einer Reise durch Städte in der Bundesrepublik, der deutschsprachigen Schweiz und Österreich. Den Neid im Ohr: Du darfst in Berlin leben, der Metropole! Die Musikkritik in der Stadt sieht es anders. So nahm die „Berliner Zeitung“ die Finanzmisere an der Deutschen Oper zum Anlaß eines langfristigen Diskussionsforums, das der leitende Musikredakteur mit einigen Vorgaben eröffnete. Die wichtigsten: Die Kulturpolitik verwaltet im wesentlichen Institutionen der Vergangenheit. Es fehlt an einer sinnvollen Dramaturgie, primär an der Staatsoper, doch übertragbar ist der Begriff auch auf Defizite im kulturpolitischen Denken. Der Verdrängungswettbewerb nötigt zur Konkurrenz „in der Ausführung des Immergleichen“.
Sicher lassen sich die Kulturpolitiker bisheriger Prägung wie auch die lässigen Beobachter außerhalb der Stadt vom „Schein des Elitären“ blenden. Im Zweifelsfall wird auf die Berliner Festwochen verwiesen. Das Musikprogramm der 48. Folge stand unter dem Motto „Wien 1750 – 1950“, eine Verbeugung der Wunsch-Metropole vor der nahen Verwandten im Süden. Im kommenden Jahr folgt gleichsam der zweite Teil: „Gustav Mahler – das Gesamtwerk“, eine Erneuerung des Gustav-Mahler-Zyklus von 1982. Festwochenthemen sind das eigentlich nicht. Es handelt sich um Musik, die auch sonst erklingt, um Interpreten, die auch sonst zu hören sind, wenngleich in einer Dichte, der weder „normales“ Publikum noch die Kritiker gewachsen sind. Was fehlt, ist die Einstimmung auf neues Hören, das die für das Konzertleben immer noch signifikante Aura des 19. Jahrhunderts ablöst. Denn die Aura ist in ihrer Substanz längst aufgegeben – an Walter Benjamin sei erinnert – und bringt eben nur noch den Schein hervor, nicht mehr das Elitäre selbst als Ausweis des maßstäblich Besonderen. An fünf Abenden in herkömmlichem Rahmen (also nicht in der sogenannten Off-Scene) begab ich mich auf Spurensuche. Zu naheliegend und somit falsch, die Erfahrung der Moderne mit neuem Hören gleichzusetzen: Das „Komponistenporträt Michael Gielen“ ließ vor allem den großen Dirigenten Gielen verstehen, die Liebe des Gestrengen zu den Musizierenden wie seine Gesten des Bei-sich-selbst-Seins. Sein nicht minder bedeutender Kollege Günter Wand stellte an Bruckners Neunter abermals die durchpulsten Reibungen dar, die Verwandlung von Kunst ins scheinbar Organische. Nach dem Berliner Philharmonischen Orchester unter Wand war das Radio Symphonieorchester Wien unter Dennis Russell Davies in hoffnungsloser Ausgangsposition, doch auf die junge Sopranistin Michaela Kaune („Wunderhorn“-Lieder von Mahler) wird intensiv zu achten sein. Abende des Guarneri Quartetts und des Emerson String Quartet wurden zu einem Gespräch zwischen zwei Generationen, einem Sprechen, das seinen Duktus ans pur Musikalische abgab (Guarneri) oder aus dem Musikalischen wetterleuchtend rückübersetzte (Emerson). Neues Hören ist ja auch die Erfahrung des längst Vertrauten, als sei es vergessen, abgesunkenes Kulturgut. Fortschritt fort Wir wissen es aus Umfragen zum Radioprogramm: Neue Musik ist schlimm – Sprechen über Musik ist schlimm – Sprechen über Neue Musik ist das Schlimmste. Unerwünscht bis zum Anschlag. Musikpublizisten sind so unbelehrbar, ihre Belehrungen gleichwohl fortzusetzen. Ein Jour fixe der Berliner Gesellschaft für Neue Musik hatte auf meine Anregung das Dauerthema „Neue Musik und Kritik“ zur Verhandlungssache erklärt. Ein Forum über Handwerksfragen zugunsten eines Gegenstandes „fatal am Rande der Gesellschaft“ (Teilnehmer Reinhard Schulz). Aus der Geschichte hingegen ist das Bild von der „Macht des Kritikers“ tradiert. Sofern es sie noch gibt, soll sie zurückgedrängt werden, meinte Schulz: „ich finde, daß eine Kritik geschrieben werden sollte, die selbst verletzbar ist“. Sie ist es a priori schon deshalb, weil die Schreibenden (so der Einwand eines Komponisten) das Wissen nicht haben können, über das der Urheber in bezug auf sein Werk verfügt. Demgegenüber Rainer Riehn im 100. Heft der von ihm und Heinz-Klaus Metzger herausgegebenen Musik-Konzepte: „Die Urteile über die Musik sind wertvoller als die Musik selbst. Sie sind die Philosophie der Musik. Die so verstandene Philosophie umgreift die Musik. Die Musik kann nicht auf die Philosophie verzichten. Die Philosophie kann auf die Musik verzichten.“ Das Heft hat den Titel: „Was heißt Fortschritt?“ Es ist fatal mißglückt. Vielleicht war das die Absicht, dann ist das Heft ein Glück. Denn „Fortschritt“ gehört zu den gescheiterten Begriffen nicht nur in Theorie und Kritik der Musik. Es stößt einem schwarz auf. Helmut Lachenmann, lustlos, erklärt sein „Mißtrauen gegenüber dem Forsch-Ritt“; Gösta Neuwirth ortet den FS im Horizont des Fortgehens aus der befristeten Zeit. Konrad Boehmer attackiert mit belebender Ungerechtigkeit den „Gralshüter“ des „bürgerlichen Musiklebens“, Pierre Boulez. Musikkritik kann nicht dem Fortschritt verpflichtet sein. Sie geht fort, wenn ihre Zeit um ist. Musik kann nicht dem Fortschritt verpflichtet sein. Versucht sie es, bildet sie sich mit den Einschaltquoten zurück. Beide müssen aber nach vorn in den dunklen Raum. Sie befinden sich in einem schizoiden Dilemma. „Jud Süß“-Pornographie Veit Harlans „Jud Süß“-Film war das folgenreichste Machwerk der NS-Propaganda. Er aktivierte latente, aber unentschlossene Antisemiten, entlastete reuige Täter und stimulierte schwache Charaktere, zur Tat zu schreiten. Prügelnde SS-Sadisten fühlten sich jüdischen Häftlingen gegenüber im Recht. Himmler ordnete Vorführungen für „die gesamte SS und Polizei“ an, und sogar die Freiwillige Feuerwehr mußte zur Kenntnis nehmen, was offiziell in „Festaufführungen“ präsentiert wurde. Der Berliner Medienwissenschaftler Friedrich Knilli hat in der Zeitschrift „konkret“ mit Blick auf Musical- und Filmpläne der Gegenwart die pornographische Tradition in der Mediengeschichte des Stoffes offengelegt, angeregt durch ein bei Rowohlt soeben erschienenes Buch von Hellmut G. Haasis: „Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer“. Die mediale Verwertungsgeschichte, die bereits mit dem Tod seines Auftraggebers, des Herzogs Carl Alexander von Württemberg, 1737 einsetzte und nach der Hinrichtung des unschuldigen Süß am 4. Februar 1738 einen ersten Höhepunkt erreichte, hatte auch mit dem „Angriff gegen den Absolutismus“ in der „Hochphase der Aufklärung“ zu tun. Im 19. Jahrhundert, in den Jahren der sich hinschleppenden jüdischen Emanzipation, machten sich Autoren die erotische Komponente zunutze, aber fast immer waren Sexualneid und Minderwertigkeitskomplexe mit im Spiel. Lion Feuchtwangers „Jud Süß“-Roman von 1925, in 56 Sprachen übersetzt, von orthodoxen Juden kritisiert, war Veit Harlan nicht unbekannt. Für falsch halte ich Knillis Behauptung, daß im Nazi-Reich nur „fertige Antisemiten“ den Vernichtungs-Befehl des Films verstanden hätten: „Wer nicht bereits entsprechend konditioniert war, erlebte den Politporno einfach als Melodram und war damit seiner Zeit voraus.“ Gegen diese Verharmlosung spricht nicht nur die eigene Erinnerung, sondern auch das Schulungs-Angebot in der Neonazi-Szene.Hauptrubrik
Berliner Lektionen
Body
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!