Willkommen in der Vergangenheit! Nach dem zukunftsfrohen Fußballfest im Juli, als die Welt in Deutschland zu Gast war, geht’s zum Neustart nach den Ferien im Marschschritt wieder zurück in alte Zeiten. In Stereo fliegen einem die Misstöne um die Ohren, und der Himmel hängt voller SS-Runen.
Aus dem rechten Lautsprecher erklingt die seltsame Versöhnungsmelodie der Vertriebenenkönigin Erika Steinbach, die 1943 im besetzten und verwüsteten Polen als Tochter eines Wehrmachtsoldaten geboren wurde und sich nun zum Sprachrohr der Opfer aufschwingt. Und wenn die wirklichen Opfer gegen diese Dreistigkeit protestieren, wie es der polnische Staatspräsident mit seinem demonstrativen Besuch im KZ Stutthof bei Danzig nun vormachte, wird ihnen in deutschen Medien mangelnder Versöhnungswille unterstellt.
Die öffentliche Akzeptanz der politischen Pornografie wurde schon vor einigen Monaten in Pulheim bei Köln getestet, wo ein Kunst-Entertainer mit obrigkeitlicher Billigung Autoabgase in eine ehemalige Synagoge leiten durfte. Mit dem klaglos tolerierten Opfergedudel der Täter-Nachkommen nimmt die Vergiftung des politischen Raums nochmals um einen Grad zu.
Von links ertönt das aufgeregte Pro und Kontra um die Mitgliedschaft von Günter Grass in der Waffen-SS. Durch ihn ist Hitlers Elitetruppe, wie man nun weiß, klammheimlich an den Nobelpreis gekommen, womit ihrer Diskursfähigkeit nichts mehr im Weg steht. Einundsechzig Jahre nach Kriegsende ist die staatliche Mörderbande wieder Teil des deutschen Alltags, ihre schwarzen Uniformen marschieren im Fernsehen, im Zeitungsfeuilleton, im Nachrichtenmagazin, am Stammtisch. Und jedes Mal durch unsere Köpfe. Beim ausgelassenen Fähnchenschwenken in den Fussballstadien vor zwei Monaten konnte man sich zu Recht über das neue, unverkrampfte Nationalbewusstsein freuen. Nun mischt sich in den fröhlichen Jubel wieder der schwere Tritt der schwarzen Stiefel.
Weshalb diese klebrige Erinnerungskultur? Der Hauptgrund ist gewiss der, dass einem beim Gedanken an die Untaten während der zwölf braunen Jahre bis heute der Atem stockt. Dass aber das Thema gerade in den Feuilletons so hochschwappt, liegt an etwas anderem. Die intellektuellen Moralprediger der Bundesrepublik, die stets wortgewaltig auf die andern zeigten, verheimlichten der Öffentlichkeit jahrelang, dass sie selbst zu den Mitmachern und Mitläufern gehörten: der linke Rhetorikprofessor Jens, der progressive Literat Höllerer, der gediegene Germanist Wapnewski, Grass und viele andere.
Die Gründe ihres Verschweigens müssen sie mit sich selbst ausmachen. Aber der moralische Anspruch, mit dem sie als Erzieher der Öffentlichkeit und der jungen Generation aufgetreten sind, geht uns alle an: Er erscheint in diesem Licht als Entlastungsmanöver, um vom eigenen Versagen abzulenken. Die Aufklärer als verkappte Dunkelmänner.
In der Musik waren diese Verdrängungsmechanismen vor allem auf den akademischen Bereich beschränkt. Bei den Komponisten aus der Darmstädter Revoluzzergeneration, vergleichbar der Gruppe 47, findet man sie nicht, vielleicht auch weil sich die deutsche Musikszene nach dem Krieg sofort internationalisierte. Ein Stockhausen, ein Henze komponierten sich ihr Nazitrauma vom Leib, Nono wuchs im Dunstkreis der Resistenza auf, Boulez als Franzose war jenseits von Gut und Böse, der Jude Ligeti vor und nach 1945 doppelt diskriminiert.
Anders die Literaten. Sie hatten als Heranwachsende die Macht der Worte aus Schulbüchern, Zeitungen und Lautsprechern kennen gelernt und den wichtigtuerischen Tonfall beim Verkündigen apodiktischer Wahrheiten – „Achtung Achtung, hier spricht der Führer“ – verinnerlicht. In ihren moralischen Verdammungsurteilen aus den Nachkriegsjahrzehnten klingt dieser Tonfall nach, Widerspruch war nicht gestattet. Insofern hat Grass’ späte Selbstentblößung auch ihr Gutes. Mit dem seltsamen Brauch des selbstgerechten öffentlichen Moralisierens von Künstlern ist damit ein für alle Mal Schluss.