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Schmetterlinge hören anders. Foto: Hufner
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Das innere Ohr

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 Absolute Beginners
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Der Beginn jeden Komponierens ist das, was man im Kopf hört, bevor man eine Taste drückt, einen Mausklick macht oder ein Sample auslöst. Ohne dieses innere Hören ist Komponieren nicht Komponieren, sondern Ausprobieren.

Jeder wirkliche Komponist kennt dieses Glücksgefühl, wenn sich im Kopf eine Welt aus Tönen und Möglichkeiten langsam ordnet, bis sich eine so klare Vorstellung festigt, dass man sie dann „nur noch“ in eine Partitur notieren muss. Dieses „nur noch“ ist allerdings harte Arbeit und kann selbst mit modernsten Notationshilfen immer noch sehr lange dauern. Vermutlich wird man sich der ersten inneren Klangepiphanie nie zu 100 Prozent nähern, es wird am Ende immer Versuch bleiben. Aber genau das macht den Reiz des Komponierens aus, dieses Kämpfen um den im Kopf gehörten und stets flüchtigen Klang. Viele Komponisten benutzen den Ausdruck: „Ich habe das Stück schon im Kopf gehört“, und ich kann das komplett nachvollziehen. Tatsächlich kann sich das ganze Stück schon im Kopf befinden, bevor man eine einzige Note geschrieben hat, oder zumindest eine ganzheitliche Vision davon, wie das Stück klingen wird. Dieses innere Hören ist tatsächlich das, was ich beim echten Komponieren als Talentvoraussetzung bezeichnen würde. Nicht allen Menschen ist diese Fähigkeit gegeben, man kann sie aber entwickeln, wenn man sie nicht besitzt, genauso wie hartnäckige Relativhörer durch ständige Repetition dem Absolut-Hören sehr nahekommen können. Das ist aber – wie das Komponieren auch – harte Arbeit. Habe ich schon gesagt, dass Kunst eigentlich fast immer harte Arbeit ist?

Manchmal frage ich Kinder bei einem Vortrag, ob sie sich ein bestimmtes Instrument (das sie schon Mal gehört haben) im Kopf vorstellen können. Nur maximal die Hälfte (meistens noch weniger) wird die Hand heben, die anderen tun sich damit schwer. Sie können sich Melodien und Melodiefragmente ins Gedächtnis rufen, aber ihnen fehlt (noch) die Fähigkeit, ein spezifisches Timbre im Kopf zu empfinden. Das müssten sie üben, aber die Daddelkultur von heute beraubt sie dieser Erfahrung.

Leider leben wir in einer Zeit, in der das virtuelle „Ausprobieren“ zunehmend leichter geworden ist. Man benötigt die Fähigkeit des inneren Hörens gar nicht mehr so, da es für alle visuellen und auditiven Erfahrungen (und bald wohl auch für die taktilen) Substitute gibt. Der Hobbykomponist, der einen Song schreiben will, muss sich die Begleitung dazu nicht mehr vorstellen, Garage Band liefert ihm schon gleich ein typisches Mainstreammuster, wie so etwas klingen kann. Andere Komponisten benutzen Finale oder Sibelius, klicken Töne an und sofort erklingt ein phantastisches Sample mit dem Solo-Oboisten der Berliner Philharmoniker.

Wo bleibt da die Lust am Entdecken, wenn das Ergebnis schon vorgefertigt ist? Selbst die experimentellen Komponisten fallen sehr oft in die Falle, das Kombinieren von vorgefertigten Modulen (wie zum Beispiel bei Max-MSP) mit Komponieren zu verwechseln.

Kombinieren n’est-ce pas Komponieren. Klingt ähnlich, ist aber nicht dasselbe.

Und so hoffe ich jedes Mal aufs Neue, wenn ich Kindern das Komponieren erkläre, dass eine oder einer von ihnen spontan den Klang eines Saxophons im Kopf hören kann, und beginnt, Musik zu erfinden, anstatt sie nur zu finden. Und dann beginnt vielleicht ein Spiel: Wer kann sich ohne jedes Hilfsmittel eine irrsinnige Musik im Kopf vorstellen?

Wer das lernt, gewinnt.

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