Die Kultur in Deutschland steht gut da. Zumindest oberflächlich betrachtet. Bei genauerer Analyse wird jedoch ein Problem offensichtlich: Die Balance zwischen der Pflege unseres kulturellen Erbes und der Pflege unserer kulturellen Zukunft ist verloren gegangen. – Ein Gastkommentar von Reiner Michalke, Gründungsmitglied der Bundeskonferenz Jazz
Die Bundesrepublik Deutschland verfügt unzweifelhaft über die dichteste Kulturlandschaft der Welt. Der überwiegende Teil aller Opernhäuser weltweit mit einem eigenen Spielbetrieb (Orchester, Chor und Ensemble) befindet sich in Deutschland. Allein in einem 100-Kilometer-Umkreis von Düsseldorf befinden sich 27 öffentlich getragene Symphonieorchester, und so gut wie jede Kleinstadt verfügt über mindestens ein öffentlich getragenes Museum.
Diese kulturellen Institutionen haben sich über einen langen Zeitraum entwickelt und im Laufe mehrerer Jahrhunderte etabliert. Sie haben gelernt, sich von den Schwankungen öffentlicher Ausgaben unabhängig zu machen und sich bislang erfolgreich einer Strukturreform entzogen. Unterstützt werden sie dabei von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis, zu dem auch die Arbeitnehmervertreter gehören. Da also dort für die Finanzpolitiker nichts zu holen ist, konzentriert sich die in vielen Kommunen immer notwendiger werdende Notwendigkeit zum Sparen überproportional auf die freien, nicht-institutionellen Kulturinitiativen. Der wesentliche Teil aller öffentlichen Ausgaben für Kultur fließt heute in die Bewahrung des kulturellen Erbes.
Besonders eklatant ist dieses Missverhältnis im Musikbereich, in dem die Oper, eine Kunstform des 18. Jahrhunderts und der symphonische Konzertbetrieb, eine Kunstform des 19. Jahrhunderts, fast die gesamte öffentliche Unterstützung zuteil wird, während die aktuelle Musikproduktion fast ausschließlich auf den freien Markt angewiesen ist. Das bedeutet für den künstlerisch ambitionierten Teil des aktuellen Musikbetriebs, der weder von seinen CD-Verkäufen noch von seinen Eintrittskarten leben kann, dass ihm die Luft zum Atmen fehlt.
Die Folge liegt auf der Hand: Die Bundesrepublik Deutschland droht, in Bezug auf die aktuelle Kulturproduktion in einigen Bereichen international den Anschluss zu verlieren. Dies ist allerdings nur schwer zu belegen, denn wenn erst einmal belastbare Zahlen existieren, ist es bereits zu spät. Auch die Enquete-Kommission Kultur hat dies nicht, oder nur sehr zaghaft erkannt. So kann es durchaus geschehen, dass aus einem ehemals reichen Kulturland in nicht allzu ferner Zukunft kulturelles Entwicklungsland wird. Auch wenn der folgende Blick in die Vergangenheit der Kulturgeschichte zugegebenermaßen weit hergeholt ist, aber auch die Ägypter, Griechen und Römer verfügten einst über eine reiche Kulturlandschaft. Ihre Bedeutung nahm jedoch in dem Maße ab, wie sie sich mehr der Bewahrung ihrer eigenen kulturellen Leistungen, als der Erforschung und Entwicklung neuer Kulturformen widmeten.
So erleben wir, dass gerade aus Ländern mit einer vergleichsweise jungen Geschichte, wie etwa Australien und Kanada, die gerade einmal über eine 150-jährige Kulturgeschichte verfügen, aber auch aus den skandinavischen Länder, die in Europa lange nicht tonangebend waren, heute die interessantesten Beiträge der aktuellen Kunst- und Kulturproduktion kommen. Auffällig ist, dass in diesen Ländern, oft in Ermangelung eines eigenen großen kulturellen Erbes, dem zeitgenössischen Kulturschaffen eine vergleichsweise große Bedeutung zuteil wird. Hinzu kommt – vor allen Dingen in Skandinavien - ein kulturell ausgeprägtes, vorbildliches Schulwesen und eine positive Affinität zu den eigenen kulturellen Wurzeln. So ist heute schon voraussagbar, dass viele wegweisende künstlerische (und geistige) Leistungen in den kommenden Jahrzehnten absehbar unter anderem aus Norwegen kommen werden.
Was bedeutet dies für den Kulturstandort Deutschland? Auf Grund seiner bedeutenden Kulturgeschichte, seinem begeisterungsfähigen und offenem Publikum und nicht zuletzt auf Grund seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten hat der Kulturstandort Deutschland immer noch die Chance, an die Weltspitze anzuschließen. Vorraussetzung dafür ist, dass die Verantwortlichen in Bund, Länder und vor allen Dingen in den Gemeinden erkennen, welche Chancen in einer deutlich verstärkten Zuwendung für den Bereich der aktuellen Kunst- und Kulturproduktion liegen.
Von allen Seiten müssen zusätzliche Anstrengungen unternommen werden, sehr viel mehr Geld in den freien, nicht-institutionellen Kulturbetrieb zu investieren. Dabei kommt es weniger auf eine direkte Künstlerförderung, als vielmehr auf eine gezielte Strukturförderung an, die es Künstlerinnen und Künstlern ermöglicht, ihre kreative Energie verstärkt in Forschung und Entwicklung zu investieren und die Ergebnisse in einem jeweils angemessenen Rahmen unter professionellen Bedingungen einem Publikum zu präsentieren. Freie Künstlerinnen und Künstler sind überdurchschnittlich leistungsbereit. Sie wollen nicht alimentiert, sondern für ihre Leistung honoriert werden.
Neben der Stabilisierung und Schaffung neuer Arbeitsmöglichkeiten und Präsentationsformen für neue und allerneueste Kunst, bleibt es von großer Bedeutung, Kunst und Kultur als selbstverständlichen Bestandteil im Schulunterricht zu verankern – mit allen notwendigen Konsequenzen für die Anzahl der Lehrerinnen und Lehrer und deren Aus- und Weiterbildung.
Eine weitere wichtige Rolle kommt den Medien, hier vor allen Dingen den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, zu. Viele ARD-Anstalten haben sich in einem falsch verstandenen Wettbewerb mit den privaten Rundfunkanbietern zunehmend auch im Kulturbereich auf vermeintlich populäre Inhalte konzentriert und dabei eine ihrer eigentlichen Aufgaben als Vermittler zwischen Kunst und Publikum vernachlässigt.
Die Kultur in Deutschland steht (noch) gut da. Damit dies auch in Zukunft so bleibt, muss ein Prozess des Umdenkens, des kulturellen Aufbruchs, der ja bereits in vielen Bereichen bereits begonnen hat, fortgeführt werden. Dabei gilt es, auf einem der reichsten kulturellen Schätze, den die Welt kennt, aufzubauen, die eigenen Stärken zu erkennen und die darin liegenden Chancen zu nutzen.
Reiner Michalke ist künstlerischer Leiter des Moers Festival.