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Der Feind im Innern

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Wenn man jemanden fragt, wozu es eigentlich eines Rechtssystems bedarf, kann die Antwort nur lauten: Es dient dem Schutz des Individuums. Und so steht es auch im Artikel 1 des Deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Zweifellos ist unser gesamtes gesellschaftliches System von Rechtsbezügen durchwirkt. Entscheidende Fragen der menschlichen Würde kommen auf diese Weise in die Maschine einer bürokratischen Rechtsordnung –, neben die das Vertrauen auf die anarchistische Steuerungsfunktion des Marktes und damit die pseudoliberale Dikatur der Wirtschaft tritt. Das bleibt nicht folgenlos. Habermas bezeichnete jüngst die sozialen Pathologien der Gegenwart: Sie „ergeben sich erst in der Folge einer Invasion von Tauschbeziehungen und bürokratischen Regelungen in die kommunikativen Kernbereiche der privaten und öffentlichen Sphären der Lebenswelt.“ Gegenwärtig ist es üblich – geht es nun um Gartenzwerge, Selbstbestimmungsrechte von Völkern oder den Schutz von geistigem Eigentum –, daß kaum noch jemand innerhalb des sozialen Raumes mit sich reden ließe, sondern einzig das Angebot steht, das einer Drohung gleichkommt: „Dann sprechen Sie bitte mit meinem Anwalt.“ Diese Tendenz zur Abstraktion von genuin zwischenmenschlichen Beziehungen auf die Ebene des Rechts ist für die gegenwärtige Situation genauso evident wie fatal. Sie ist evident und folgerichtig, weil alle gesellschaftlichen Gruppen sich hinter der Macht des Gesetzes verstecken, wer dies nicht täte, stünde da wie ein romantisches Äffchen. Sie ist aber auch fatal: Denn nicht wird damit das Rechts- oder Unrechtsbewußtsein gestärkt, sondern das Vertrauen darauf, daß allein rechtlich organisierte Verfahren den Schutz des Individuums gerantieren könnten. Wenn an dieser Stelle nachdrücklich eine „Aktion Musik“ gefordert worden ist, so ist dem doch eigentlich eine „Aktion Mündigkeit“ vorauszuschicken. Das Dilemma besteht darin, daß Regularien, die in das Rechtssystem abgewandert sind, zurück in eine moralische Verpflichtung, besser noch in eine Stärkung des Ich-Bewußtseins aller Individuen gesetzt werden müßten. Es macht einen gewaltigen Unterschied aus, ob man vom Punkt der Moral, eines selbstbewußten Ichs oder des Rechts aus sagt: „Du sollst Noten nicht kopieren“, „Du sollst geistiges Eigentum ehren“ oder „Du sollst Deinen Nächsten nicht für blöd verkaufen“. Diese Entwicklung hat schon der Soziologe Max Weber durchschaut, wenn er den neuen Menschen so beschreibt: „Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.“ Der Feind einer modernen Gesellschaft kommt nicht aus einem entfernten Land, er kommt allein aus dem Innern der Menschen.

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