Unmöglich, konterte ein Radio-Kollege unlängst, als ich vorschlug, in einer meiner Sendungen Solo-Aufnahmen des Trompeters und Multiinstrumentalisten Leo Smith vorzustellen. Wir stoppten die Aufnahmen. Mittendrin, zwischen den hingehauchten Tönen und den sparsamen Perkussionsklängen gab es immer wieder sekunden-, ja minutenlange Stille. Das geht nicht, meinte der Kollege, bei solcher Musik segelt uns am Ende noch der Sender ab. Pause oder Stille, das ist hier die Frage. Früher gab es für die Pausen das Pausenzeichen. Heute wird – die Servicewellen haben es vorgemacht – im Regelfall alles dicht aneinander gefahren. Stille als Ausnahmezustand in einer mit Musik, mit vorproduzierter Berieselung, akustisch tapezierten Umwelt. In der Stimme des Kollegen begann sich Angst zu spiegeln. Bei längerer Stille im Sendeablauf könnte sich ein Alarmaggregat einschalten. Hörer X könnte aus lauter Unverständnis die Kaffeetasse aus der Hand fallen, Hörerin Y hätte Anlass, an der Existenz des Senders, ja schließlich gar an der Existenz der öffentlich-rechtlichen Ordnung zu zweifeln. Stille als Bedrohung, als unerhörte Provokation. Dr. Murke, murmelte ich beiläufig. Und das verstand nur die der Szene beiwohnende Technikerin, Nachkriegsgeneration, aufgewachsen mit den frühen Erzählungen von Heinrich Böll. In Bölls Text „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen” schneidet ein Radio-Mann Schweigen aus den für Sendungen aufgezeichneten Vorträgen, um dann diese ereignislosen Bandschnipsel aneinander zu reihen und sich daran zu ergötzen. „Ach Rina”, sagt der von den Spätdiensten genervte Held in Bölls Geschichte zu seiner Freundin, „wenn du wüsstest, wie kostbar mir dein Schweigen ist. Abends, wenn ich hier sitzen muss, lasse ich mir dein Schweigen ablaufen.” Und er fleht Rina an, ihm drei Minuten Band zu beschweigen.
Beschweigen, dieser glänzende Neologismus Heinrich Bölls, scheint in Zeiten omnipräsenter Beschallung obsolet geworden zu sein. Die Abwesenheit von Wort, Klang oder Geräusch erzeugt nachgerade Unsicherheiten, wenn nicht gar Angstzustände. Das dramaturgische Mittel der Pause droht aus dem Bewusstsein zu entschwinden. Schweigen gilt in einer vom Aktionismus besetzten Zeit als Zeichen der Unterlegenheit. Die Zen-Weisheiten und die Reflexionen von John Cage über das Nicht-Gesagte, das Nicht-Komponierte haben wenig Chancen, gehört zu werden. Stille als Bewusstseinszustand oder als Nicht-Bewusstsein lässt sich in einem von Zweckrationalität geregelten Alltag kaum mehr unterbringen.
Leo Smith spricht in seinen Abhandlungen zur Musik vom kreativen Improvisator, von der kreativen Improvisatorin im Zusammenhang mit der spontanen Organisation von Klang, Stille und Rhythmus. Und Smith weiterdenkend könnte man folgern: Nachdem sich die Beschäftigung mit Musik im Medienzeitalter mehr und mehr von der eigenen Spielpraxis auf die Rezeption verlagert hat, wäre – wie für den Musizierenden – auch in der Wahrnehmung der ständig verfügbaren Schallquellen eben das neu zu lernen: den kreativen Umgang mit Klang, Stille und Rhythmus. Erst die Befreiung vom Druck, Klang permanent wahrzunehmen, weist in die Räume, wieder verantwortungsbewusst mit diesem umzugehen. Über die Youngsters mit ihren Techno-Sounds im Walkman die Nase zu rümpfen, erscheint billig. Einige von ihnen suchen wohl in der Phon-Ekstase eine akustische Gegenwelt zur Allgegenwart eines emotionslosen Mezzoforte. Die zunehmende Verdichtung und Verstärkung von Sounds gerät nahe an ihr Gegenteil, die Stille, ermangelt jedoch deren Qualität.
Wohin, fragte ich den Kollegen, soll etwas nachklingen, wenn es keine Stille mehr gibt? Welche Verarmung droht uns, wenn jeder etwas besprechen und keiner mehr etwas beschweigen kann? Wird das Stück 4’33” von John Cage, Tacet für jedes beliebige Instrument oder jede beliebige Kombination von Instrumenten, nur noch als Skurrilität wahrgenommen? Oder könnte es sein, dass wir dereinst in Music-Boxen Geld einwerfen, um nichts zu hören? Und wir wissen doch, nicht erst seit John Cage, dass es nie nichts zu hören gibt, dass die ereignislose Leere eine Fiktion ist. Den Frequenzen des eigenen Herzschlags und denen unserer höheren Nerventätigkeit können wir auch im stillen Schweigen nicht entgehen. Vielleicht gut, dass ich die Stücke von Leo Smith nicht an einem Platz gesendet habe, wo sie sich versendet hätten. Ich bin mit ihrem Klang, ihrer Stille und ihrem Rhythmus im Kopf (und ohne Kopfhörer) im Berufsverkehr von Halle nach Leipzig gefahren.
Lesen Sie zu diesem Thema auch den Cluster „Figaro, übernehmen Sie“ auf Seite 4.