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Der 12. Mai ist ein historisches Datum für das Verhältnis Deutschlands zu Europa. An diesem Tag beschloss der Bundestag mit über 95 Prozent der Stimmen, eine Reihe für die nationale Selbstbestimmung wichtiger Rechte an die EU-Verwaltung in Brüssel abzugeben. Es gibt gute Gründe, die eine solche Teilabtretung der Souveränität rechtfertigen. Und es gibt auch gute Gründe, dagegen zu sein. Insofern scheint es sich bei der Abstimmung um einen normalen demokratischen Vorgang unter Abwägung von Pro und Kontra gehandelt zu haben. Zweifel daran sind jedoch erlaubt.

Die Willensbildung fand ohne die breite öffentliche Debatte statt, die für eine so gravierende Entscheidung nötig gewesen wäre. Nicht einmal das Parlament scheint in der Lage gewesen zu sein, sich mit der Materie hinreichend zu befassen. Viele Abgeordnete hatten gar keine Zeit – oder keine Lust? –, den Vertragstext gründlich zu studieren. Vom einfachen Bürger ganz zu schweigen. Wer liest schon gern ein Paragrafenungetüm, das beim Download im Internet rund zwei Megabyte umfasst und nach dem Amtsschweiß von tausend Sesselfurzern riecht? Bringt dafür auch nur ein Bürger jenes Mindestmaß an Identifikation auf, das für die Akzeptanz einer Verfassung nötig wäre?

Die gesamte Öffentlichkeit war von der elefantösen Macht der Fakten überfordert. Inhaltliche Aspekte wurden, wenn überhaupt, erst kurz vor der Abstimmung ernsthaft diskutiert. Viel zu spät für eine Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung, und eine Farce im Vergleich zur leidenschaftlichen öffentlichen Diskussion im Nachbarland Frankreich. Aber offensichtlich war das in Deutschland auch gar nicht beabsichtigt. Das Volk sollte das Maul halten, die ganze Angelegenheit im abgeschirmten parlamentarischen Raum durchgedrückt werden. Da kann man nur mit dem alten Brecht fragen, wovor die Regierenden eigentlich Angst haben. Glauben sie insgeheim etwa selbst, es handle sich um ein Kuckucksei? Oder fürchten sie schon den Blair-Effekt? Seit den Lügen um den Irakkrieg wird der Premier in den englischen Medien als Mr. B. Liar vorgeführt.

Von der Manipulation der öffentlichen Meinung, wie sie vor dem Irakkrieg in den USA praktiziert wurde, scheint das alles nicht allzu weit entfernt. Widerspruch war karrieregefährdend. Zweifelnde Abgeordnete wurden, wie zu lesen war, massiv unter Druck gesetzt, Gegenargumente schon im Vorfeld weggewischt nach dem Motto: Wer nicht dafür ist, ist gegen Europa. Wer trotzdem noch den Mund aufmachte, wurde in die rechtsnationale Ecke geschoben. So kam jene „überwältigende Mehrheit” zustande, von der bis 1989 auch anderswo die Wahlstrategen gerne träumten.

Die Initiative von Skeptikern, die in letzter Minute einen Mitsprachevorbehalt für die Länder bei sie betreffenden Gesetzesänderungen durchsetzten, wurde vom Bundeskanzler, einem begnadeten Populisten, zunächst als billiger Populismus abgetan. Doch wenn der Parlamentsbeschluss demnächst beim Bundesverfassungsgericht landet, wird er darüber vielleicht noch froh sein; der Vorbehalt könnte dazu beitragen, die Bedenken des Gerichts zu verringern.

Man darf rätseln über die Gründe dieses lemminghaften Verhaltens nicht nur der politischen Klasse, sondern auch großer Teile der Medien. Haben sie das Wirtschaftsdenken, das nach immer größeren Organisationseinheiten strebt, schon so verinnerlicht, dass ein zentralistisch geleitetes Großeuropa für sie schon ohne Alternative ist? Ein bis zur irakischen Grenze reichendes Großeuropa, dessen Befindlichkeit sich am Kursverlauf von Eurostoxx ablesen lässt, und das seinen Platz zwischen China und den USA durch eine gemeinsame Rüstungspolitik unter Federführung von EADS und einen entsprechend flexiblen „Außenminister” zu finden hofft?

Und was passiert mit der Kultur, die mit ihrer Vielfalt die Idee von Europa seit jeher entscheidend geprägt hat? Den Zentralisierungstendenzen wird sie sich nicht entziehen können, da der sichere Zugriff auf sie einen gewaltigen Profit verheißt. Doch die Schimäre einer kulturindustriell erzeugten „neuen europäischen Identität”, in der sich multiethnische Einflüsse in urbanen Räumen zu einem internationalistischen Gemisch verbinden sollen, kann die polyzentrischen, in mehr als zwei Jahrtausenden entstandenen Bewusstseinsstrukturen nicht ersetzen. Sie vermag allenfalls Rundfunk und Fernsehen zu einigen bunten Crossover- und Multikulti-Sendungen zu animieren.

Alt gewachsene Identitäten können nicht per Dekret neu definiert und noch viel weniger zum Verschwinden gebracht werden. Das lehrt die Erfahrung mit der Sowjetunion und Jugoslawien. An die gesellschaftlichen und geographischen Ränder abgedrängt und häppchenweise mit Selbstverwaltungskompetenzen ruhig gestellt, entfalten sie im Krisenfall eine explosive Dynamik.

Den Euphorikern der Macht, die in ihren abgeschotteten Regierungs- und Verwaltungsetagen schon die nächsten Schritte in Richtung Großeuropa planen, scheinen solche Überlegungen fremd zu sein. Das weckt ungute Ahnungen für die Zukunft.

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