Zwei Beispiele aus der Welt des Sports. Denn der ist ja nicht nur Mord, sondern auch erstens allseits beliebt und zweitens bestes Anschauungsmaterial wie die Gesellschaft so tickt. A: Zwei Skifahrer/-innen rasen die Piste hinunter, am Ende gelingt es dem einen um vier Hundertstel schneller. Und jetzt kommen die Kommentatoren und Kritiker. Der Sieger fand die Ideallinie, nahm überragend das Tempo ins Flache mit, kantete kurz und glitt butterweich. Beim anderen aber vermerkt man stirnrunzelnd leichte Fehlbelastungen des Innen- oder Außenskis, ein weniger rundes Anfahren der Tore und hie und da eine Spur zu verhaltener Aggressivität. Jetzt weiß der erstaunte Zuseher, warum da zu Recht gewonnen wurde. B: Ein Fußballspiel dümpelt vor sich hin. der Ball wechselt nach Belieben die Seiten und entzieht sich immer wieder geschickt den Begehrlichkeiten der Parteien. Der Kommentator klagt und stöhnt. Plötzlich fällt aus heiterem Himmel ein Tor, weil der Hüter desselben gerade seiner Geliebten eine Kusshand zuschickte und dem Gegner ein geplanter Rückpass so eklatant missriet, dass der Ball ins Gehäuse hoppelte. Jetzt kommt wieder der Kommentator auf den Plan. Flugs hat sich sein Ton gewandelt. Er bescheinigt den jetzt Führenden den unerlässlichen Mut zur Geduld, ja eine geradezu listige Einschläferungstaktik, während er den nun hinten Liegenden sträfliche Passivität und fehlender Drang nach vorn zur Last gelegt wird.
Die Frage lautet nun: Wie sähen die Kommentare aus, wenn in Fall A die Uhr ausgefallen wäre und niemand vorerst wüsste, wer der schnellere war, und wenn in Fall B das Tor ebenso zufällig auf der anderen Seite gefallen wäre? Wenn man über die Landschaft der Musikkritiken blickt, dann mag man mitunter ähnliche Kriterien in Aktion sehen. Der Niedergang der Musikkritik heute manifestiert sich ja nicht nur in ihrer abnehmenden Relevanz in Feuilleton, wo sie überwiegend zur nackten Opernregiekritik verkommt, sie dokumentiert sich auch im oft kläglichen Bemühen, minimalen Randbeobachtungen den Rang der Stichhaltigkeit einzuhauchen. Damit hält der Kritiker auch Abstand zum Publikum, denn ihm ist es gegeben, ein flüchtiges Verunklaren der Agogik, ein „kaum vernehmbares“ Schwanken des Tempos, eine um eine Spur zu spitz geratene Ansteuerung des Zieltons oder eine leichte Intonationseintrübung beim Alt in den tieferen Lagen kritisch wahrzunehmen.
Der Tenor lautet: Darauf kommt es eben an. Tut es aber in den meisten Fällen nicht, jedenfalls nicht in der Form einer Fehlerauflistung (was nicht heißt, dass genaue Detailbeobachtung, freilich nicht als gleichsam sportiver Selbstzweck, für die Kritik notwendig wäre).
Entscheidend sollte doch der kritische Dialog mit dem Künstler sein. Kleinkariertes Erbsen zählen wird immer mehr zur Attitüde der Eitelkeit und dient nicht der Auseinandersetzung. Musikkritik entzieht sich auf diese Weise dem Dialog. Vielleicht ist dies auch ein Grund, warum sie in letzten Jahren so sehr an Boden verlor.