Unabhängig von Temperatur und Witterung: Immer im April ist Jazz angesagt. Von allen Dächern improvisieren dann die Amseln ihre Bebop-Linien und Call-and-Response-Battles. In Amerika begeht man sogar den „Jazz Appreciation Month“. Die UNESCO feiert den internationalen Tag des Jazz. Und in Bremen steigt die jazzahead! – nun schon zum achten Mal.
Schon bei der Anreise im Zug geht es los. Dann auch beim Einchecken im Hotel. Sogar beim Hasten quer durch den Bremer Hauptbahnhof zur Bürgerweide: Überall sieht man bekannte Gesichter! Der Große mit dem Bart: War das jetzt ein Musiker oder ein Agent? Und die Dunkelhaarige im Mantel: Journalistin? Veranstalterin? Labelfrau? Im Zweifelsfall wahrscheinlich alles gleichzeitig.
Denn die Welt des Jazz ist klein und ein einziger Job genügt da längst nicht mehr. Zum Beispiel bringt ein Agent seinen Musiker bei einem Label unter, verwandelt sich dann in einen Festivalleiter und bucht ein Künstlerpaket dieses Labels und mutiert danach noch zum Jurymitglied, um die CD auszu-zeichnen, die sein Musiker für das Label aufnahm. Das ist so ein bisschen wie beim Familientreffen: Dort ist man ja auch Onkel, Neffe, Bruder und Sohn zugleich. Und jedes Jahr kommt dann wieder die ganze Vetternschaft zusammen, 593 Aussteller aus 33 Ländern waren es diesmal. Die Jazzkonzertszene im Rest von Deutschland musste für vier Tage stillgelegt werden. Denn in Berlin, Köln oder München waren einfach keine Musiker mehr aufzutreiben, auch keine Veranstalter und keine Journalisten. Alle waren sie in Bremen.
Und dort taten sie genau das, was sie auch sonst immer tun. Die Journalisten führten Interviews, die Labels verkauften CDs, die Agenten verhandelten und die Musiker machten Musik. 39 offizielle Konzerte gab es, wenn ich richtig gezählt habe, dazu 46 Auftritte bei der Clubnight und etliche musikalische Einlagen an allen möglichen Rändern der Messe. Man hat nicht den Eindruck, als würden dem Jazz die Talente ausgehen. Oder als würden irgendwann weniger Jazz-CDs produziert. Oder als nähme in Deutschland die Zahl der Jazzfestivals und Konzertreihen ab. Oder als würden Jazzpreise gestrichen: Auch in Bremen wurden wieder welche verliehen, an Han Bennink und Ralf Dombrowski. Und dennoch: Überall sprach man wieder von Krise!
Gibt es eigentlich eine Steigerung zu „Krise“? Katastrophe? GAU? Super-GAU? Seit ihrem Bestehen ist die jazzahead! ein verlässlicher Krisengipfel. Jetzt schlägt die Krise zu, hieß es im ersten Jahr. Jetzt ist sie endgültig angekommen, hieß es im zweiten Jahr. Wir liegen am Boden, hieß es im Jahr darauf.
Dieses Jahr gab es schon die siebente Krisen-Steigerung. Dabei fühlen sich doch immer alle ganz wohl in Bremen. Denn da gibt’s nette Leute (die Jazzfreaks sind ja unter sich), nette Musik (was Jazzfreaks halt so hören), nette Gespräche (flüssige Fachsimpeleien) und nette Getränke (noch flüssigere Fachsimpeleien). Nirgends macht daher das Jammern über die Krise mehr Spaß. Die jazzahead! ist die beliebteste aller Jammer-Sessions – die führende Wohlfühl-Krisenmesse Deutschlands, Europas und der ganzen Welt.
Stimmt: der ganzen Welt. Die Zeiten nämlich, als in Bremen entweder der deutsche oder aber der europäische Jazz vorgestellt wurde, sind längst vorbei. Jetzt gibt es eine deutsche Konzertschiene, eine europäische Konzertschiene, eine globale Konzertschiene und eine Gastland-Schiene! Das Gastland war dieses Jahr Israel – und weil Israel Multikulti ist, hätte man sich die globale Schiene eigentlich sparen können. Denn bei der „Israeli Night“ war bereits so ziemlich alles dabei, was den echten globalen Jazz ausmacht. Nämlich (in alphabetischer Reihenfolge): Afrika, Balkan, Darbuka, Folk, Jemen, Kurdistan, Oud, Prog, Punk, Reggae, Synthesizer usw. Ein Business Consultant aus Israel machte dann auch gleich die globale Rechnung auf: „Hunderte von Millionen“ von neuen Jazzfans wolle er gewinnen! Alle Folk-, Punk-, Reggae- und Synthesizer-Fans auf der Welt hat er da wohl gleich mitgezählt.
Überhaupt: das Fachprogramm. Da gab es Jazzkonferenzen und Jazzausstellungen, es präsentierten sich Jazzinitiativen („die beste Gelegenheit...“), es trafen sich Jazzorganisationen zur Mitgliederversammlung („wenn schon mal alle hier sind...“), Jazzmanager berieten Jazzanwälte, Jazzanwälte berieten Jazzmanager, die einen riefen zum Jazzfrühstück, die anderen zum Jazzbrunch, die Dritten zur digitalen Jazzvermarktung. Und Deutschlands alter und neuer Jazztourneepapst empfing wie jedes Jahr exklusiv und hoheitsvoll zur Privataudienz – in der VIP Area und nur auf persönliche Einladung. Es ging also wieder richtig rund in Jazz Bremen. Immer größer, immer bunter, immer lebendiger. Die nächste Verschärfung der Krise kann kommen.