Es ist fast alles schon einmal da gewesen. Oder nicht? „Was ist die Kunst so seltsam und sonderbar! Hat sie denn nur für mich allein so geheimnisvolle Kraft und ist für alle anderen Menschen nur Belustigung der Sinne und angenehmer Zeitvertreib? Was ist sie denn wirklich und in der Tat, wenn sie für alle Menschen nichts ist und für mich allein nur etwas?“ Mit diesem Stoßseufzer ließ Wilhelm Heinrich Wackenroder in seinen 1797 erschienenen Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders den fiktiven Komponisten Joseph Berglinger die Entfremdung zwischen Künstler und Publikum beschreiben. 2011, auf der 65. Frühjahrstagung der Akademie für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt, beklagt der Frankfurter Komponist Volker Staub die Isolation der Neuen Musik: 95 Prozent seiner Freunde und Bekannte könnten mit dieser Musik nichts anfangen, wenn er sie in ein Konzert einlade. „Wir trinken denselben Cappuccino, tragen dieselben Klamotten, aber in dem, was mir künstlerisch am wichtigsten ist, haben wir keine Schnittmenge.“
Dass diese Freunde und Bekannten Neue Musik nicht einmal mehr als „angenehmen Zeitvertreib“ betrachten, darf man allerdings vermuten, ebenso wohl, dass sie weit weniger Schwierigkeiten haben, sich auf moderne Literatur oder Bildende Kunst einzulassen. Zudem artikuliert Staub auch ein Misstrauen gegen die Expertenkultur, hält sie für einer demokratischen Gesellschaft nicht angemessen. „Berührungen. Über das (Nicht-)Verstehen von Neuer Musik“, lautet das Thema der Darmstädter Tagung, und mit Staubs Diagnose sind die Teilnehmer gleich mittendrin.
Aber gibt es die Problematik des Verstehens, Nicht-Verstehens und Miss-Verstehens wirklich erst seit Wackenroder und der Ausdrucksästhetik, wie eine Referentin meinte? Existierte nicht schon um 1600 eine „Musica riservata“, die nur oder vor allem die Experten verstanden? Sah sich nicht schon Heinrich Schütz zu aufführungspraktischen Hinweisen genötigt? Warf man dem 20-jährigen Johann Sebastian Bach in Arnstadt nicht vor, dass er mit seinem Orgelspiel die Gemeinde verwirre? Leopold Mozart riet 1780 seinem Sohn: „Du weißt, es sind 100 Ohnwissende gegen 10 wahre Kenner – vergiss also das so genannte Populare nicht, das auch die langen Ohren kitzelt.“ 10 von 100 – das sind immerhin 5 mehr als 2011!
Es wird lebendig vorgetragen, musiziert und diskutiert auf dieser Darmstädter Tagung, und dennoch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Teilnehmer in einem Elfenbeinturm sitzen, dessen Tür schon halb zugemauert ist. Viel wird über die leidige Problematik von Komponisten-Kommentaren zu eigenen Werken gesprochen. Dabei wäre die Frage wichtiger, wie man Programmhefte überhaupt so gestaltet, dass sie den Hörer zu Entdeckungen beim Hören anregen. Auch die Musikkritik ist ein wichtiges Thema. Dabei ist sie in den Feuilletons und auf den Kulturseiten der Zeitungen längst zur Randerscheinung geworden. Für die Minderheit der Konzertbesucher, so hört man aus den Redaktionen, lohnt eine Rückschau nicht, zumal das Konzert ja dann ohnehin vorbei ist. Eine Vorankündigung dagegen ist kein Problem. Dass das wochenendliche Fußballspiel, das ja auch vorbei ist, nebst gründlichem Vorbericht eine ausführliche Rückschau braucht, ist dagegen selbstverständlich. Auch die Restaurant-Kritik ist ein journalistisches Highlight. Schließlich wollen die Leute ja nicht nur die Speisekarte lesen, sondern wissen, wie es wirklich geschmeckt hat.
Man muss von Darmstadt nur einmal 40 Kilometer westlich, auf die andere Rhein-Seite, schauen, um zu erfahren, wie man heute über Kultur diskutiert. In Mainz wird, wo es um Einsparungen geht, munter Stimmung gemacht gegen die „Heilige Kuh Staatstheater“, gegen die „Lobby“ der Theaterfreunde, wird gar die Umnutzung des Kleinen Hauses zum Ratsaal angeregt. Ein Fußballstadion oder ein weiteres städtisches Einkaufszentrum gelten dagegen als aller Anstrengungen wert und sind als öffentliche Aufgabe nahezu unumstritten. Natürlich ist die Situation nicht hoffnungslos. Volker Staubs Kollege Bernhard König hat Recht, wenn er auf der Darmstädter Tagung zur Situation der Neuen Musik sagt: „In den letzten 5, 10, 15 Jahren ist sehr viel passiert – außerhalb des Konzertsaales.“ Nur: Was wird aus all den vielen gelungenen und beglückenden Initiativen, wenn es den Konzertsaal nicht mehr gibt?
Weniger über Befindlichkeiten, so denke ich, sollten wir reden, sondern mehr über Strategien! Wahrscheinlich markiert Joseph Berglingers Stoßseufzer von 1797 zwar nicht den Anfang des Verstehensproblems, aber doch den Beginn eines musiksoziologischen Missverständnisses. Seit Beethoven nämlich neigen Komponisten dazu, das eigene Empfinden umstandslos für menschheitsrelevant zu halten. Neulich, beim Kurt-Weill-Fest in Dessau, wurde Roland Diry, Geschäftsführer des Ensemble modern, gefragt, wie denn in 30 Jahren die Neue Musik sein werde, wenn es sie dann noch gebe. „Wie bei Mozart“, sagte er – ein wenig rätselhaft. (Auf dem Podium war keine Zeit mehr für die Nachfrage.) Ich spekuliere einmal: 1782 schrieb Mozart über seine Klavierkonzerte KV 413 bis 415 an seinen Vater, sie seien „eben das Mittelding zwischen zu leicht und zu schwer“, und erläuterte: „Hie und da können auch Kenner allein Satisfaktion erhalten, doch so, dass die Nichtkenner damit zufrieden sein müssen, ohne zu wissen, warum.“ Das klingt nach einer Strategie – und nach einer künstlerischen Herausforderung.