Wir tolerieren uns zu Tode. Wer Popkultur als Seismographen gesellschaftlicher Um- und Zustände begreift, als Medium mit Signalfunktion im avantgardistischen Vorfeld, der sollte gleich in den nächsten Military Shop rennen und sich dort mit dem grossen Survival-Package für harte Zeiten eindecken. In der neuesten Ausgabe des Metal-Magazins RockHard dominiert auf den Leserbriefseiten die Wiedergabe verbaler Schlammschlachten, die interessante Aufschlüsse zulässt.
So schreibt ein Daniel Polsinger, er habe sich wegen des Songtextes „Zero Tolerance“ der Gruppe Impaled Nazarene auf deren Homepage über die darin enthaltene Intoleranz und den faschistoiden Charakter derselben beschwert. Polsinger staunte nicht schlecht, als er folgende Antwort der Band erhielt: „Du besitzt die Unverschämtheit, hierher zu kommen und dich über solch sinnlosen Scheiß zu äußern? Ich hoffe, du kriegst Aids und krepierst qualvoll, du schwules Stück Scheiße!“ Wer jetzt abwinkt und mutmaßt, dass es halt in der harten Rockmusik schon immer nicht ganz stubenrein zuging, dem kann leider keine Entwarnung mit auf den Weg gegeben werden.
In der benachbarten Jugendszene der Dancefloor-Macher gab mir unlängst ein Hamburger Techno-Pionier zu Protokoll, er würde von einem Konkurrenten telefonisch terrorisiert, mit Worten wie: „Ich reiße dir den Arsch so weit auf, dass ich hinterher eine Melone reinschieben kann!“ Auch das nur schmutziger Rand in einer ansonsten sauberen Gesellschaft? Es gibt einen bekannten deutschen Filmproduzenten, der so von Kennern und Kunden zitiert wird: „Wer bei mir einen fucking Deal haben will, der muss hier erst mal einen Arsch voll Kohle auf den Tisch schütten!“ Alles klar im wilden Westen?
Wenn Pop Avantgarde ist und der derzeitige tiefe Fall der Umgangsformen damit Trend, dann haben wir übermorgen zwischen Wanne-Eickel und Flensburg Verhältnisse wie im Kosovo. Die derzeitige Krise begünstigt offenbar Gestus und Habitus des Stärkeren, des Härteren, des Rücksichtsloseren. Die Rapper von Fettes Brot beklagen, dass es in der HipHop-Szene zunehmend an Respekt gegenüber anderen mangelt und sich Intoleranz breit machen würde. Wie unten so auch oben. Es kann einem nämlich auch derzeit passieren, dass man in der ersten Klasse der Deutschen Bahn nach Berlin sitzt und zwei Reihen weiter so genannte „junge Wilde“ aus den Chefetagen deutscher Entertainment-Kultur ihren spiessigen Geist kübelweise ultralaut-selbstbewusst ausschütten: „Jetzt haben wir die Macht, die Generation der Dreissigjährigen wird es nun allen zeigen“ – so wird in gewissen Berliner Kreisen sinngemäß schwadroniert und dann am Montag mit Gutsherrenblick haufenweise unten entlassen.
Auch im deutschen Feuilleton hat diese Haltung des ewigen Spießers längst Sitz um Sitz erobert, probt man Macht, Ignoranz und Diktat. Oben ist in Deutschland zunehmend feiste Fettschicht, seit dem Yuppie-Boom am Neuen Markt der Hype der kleine Bruder des Hilflos-Althergebrachten, dazwischen wird jede Vernunft zerrieben und – siehe Popkultur – schon mal die Rolle des fiesen Mafiabosses geprobt. Wenn dann noch in Berlin antiamerikanisch und altachtundsechzig-romantisch gemeinsam mit Hamas-Anhängern und NPD gegen Bush und Bagdad demonstriert wird, naive Multikulti-Jünger noch die tausendste Moschee-Eröffnung in Deutschland bei „Tagen der offenen Tür“ begrüssen und nicht hauptsächlich (Ausnahme bestätigt Regel) als Akt gezielter Unterwanderung durch uns verachtende, alles Humanistisch-aufklärerische ablehnende Muslime und deren Tarnorganisationen begreifen, dann sind wir tatsächlich auf dem falschen Weg und demnächst wohl ohne Vernunft, Anstand und Moral endgültig sturmreif und damit – entschuldigen Sie die Formulierung – komplett im Arsch...
>>> Leserbrief dazu