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Die von Theo Geißler in der September-Ausgabe der nmz vorgetragene Kritik an der Reform des Hochschulrahmengesetzes rührt an ein fundamentales Problem unseres Bildungswesens überhaupt. (Siehe auch unser Forum)
Solange die Nachfrage nach immer höher qualifizierten Arbeitskräften sich unentwegt steigerte und am vorhandenen Angebot sich kaum zu ersättigen vermochte, konnte die Gesellschaft bequem sich der Entscheidung entziehen, ob sie Bildung aus ihrer Vorbereitungsfunktion auf die Erwerbstätigkeit oder aber als Gut an sich verstehen wollte, das keiner außer ihm liegenden Rechtfertigung bedarf. Die Ausschöpfung des Bildungspotentials lag immer auch im volkswirtschaftlichen Interesse – darum konnte man risikolos das Bekenntnis zum humanistischen Bildungsideal pflegen und sich dennoch an den Früchten gütlich tun, welche das Bildungsgewächs, scheinbar beiläufig, abwarf.
Die zunehmende Entbehrlichkeit von Arbeit auf jeder beruflichen Ebene hat solch wohlfeiler Scheinheiligkeit ein abruptes Ende bereitet: denn ein Zuwachs an Bildung bedeutet unter dieser Voraussetzung nicht länger einen entsprechenden Zuwachs an volkswirtschaftlichem Profit, sondern nur noch eine Erhöhung der Kosten. Wo ehedem jede Bildungsinvestition, wie wenig zielgerichtet sie auch getätigt wurde, sich als produktiv erwies, hat sie heute dem Grundsatz nach als unproduktiv zu gelten, es sei denn, es gehe mit ihr ein bestimmbarer wirtschaftlicher Nutzen einher.
Im selben Augenblick, da nicht mehr jegliche angebotene Befähigung von der Nachfrage absorbiert wird, verspricht Ertrag nur noch solche Qualifikation, an welcher zuverlässiger Bedarf besteht. In seiner radikalen Form gerät darum der Bildungsanspruch in Gegensatz zum Verlangen nach Prosperität, und die Gesellschaft steht sodann vor der Wahl, ihrem Bekenntnis zur Bildung als einem Gut an sich praktisch Folge zu leisten, indem sie dieser ohne Ansehen ihres wirtschaftlichen Nutzens oder Schadens Förderung angedeihen läßt, oder aber ihm abzuschwören, um künftig ihre Bildungsmöglichkeiten auf jene zu beschränken, deren wirtschaftlicher Nutzen ihr gesichert erscheint.
Wenn die Zeichen nicht trügen, haben sich die Deutschen für die Konversion und gegen einen zweckunabhängigen Bildungsbegriff entschieden. Der obszönste Ausdruck dieser Entscheidung: die Forderung, Ausbildung praxisorientiert zu gestalten, ertönt mittlerweile seit beinahe einer Generation und suggeriert, das Interesse der Bildungsempfänger zu vertreten, während er diese in Wahrheit im Interesse des Gewinnstrebens über Lust und Fruchtbarkeit praxisungebundener Theorie betört. An ihm bekundet sich unverstellt, wie der Angst vor einer Schmälerung des materiellen Wohlstandes jene vor der Macht des wirklich entfesselten Geistes assistiert:
Das Postulat der wissenschaftlichen Verwertbarkeit von Erkenntnis und Wissen besticht den herrschenden Kleinmut immer auch mit der Aussicht, auf diese Weise dem anarchischen Denken Zügel anlegen zu können. Sublimer artikuliert sich die Hinwendung zum Bildungsfunktionalismus in der vorauseilenden Fürsorge, die den Nachwuchs davon abhalten will, Bildungsgänge ohne Berufschancen anzutreten, und es vorzieht, ihm gleich noch die Bildung vorzuenthalten, ungenierter in der Rede von der Bildung als einer Zukunftstinvestition, die sich, entsprechend der Implikation des ökonomischen Terminus, natürlich auszuzahlen hat.
Es liegt in der immanenten Logik jedes funktionalistischen Bildungsbegriffs die Tendenz, Bildungsformen und -inhalte, die keinen vorhersagbaren wirtschaftlichen Nutzen aufweisen, zu unterdrücken.
Vom gesellschaftsfähig gewordenen Vorteilsstreben des einzelnen unter Rechtfertigungszwang gesetzt, flüchten viele Repräsentanten der Bildungseinrichtungen sich in die Unterwerfung, weil ihnen die Anerkennung des Primats der Ökonomie am ehesten den Fortbestand des eigenen Metiers zu gewährleisten scheint.
Die eilfertig vorgelegten Effizienznachweise von Schulen und Hochschulen zeugen ebenso von solcher Duckmäuserei wie der würdelose Wettlauf um Drittmittel und Sponsorengelder oder der Exkulpationsdrang in der Frage angeblich zu langer Studiendauern. Mutter Courage, wäre sie im Bildungswesen aktiv und ihre Sache ihr ein wirkliches Anliegen, wiese ihre Widersacher mit der Replique in die Schranken, daß keine Lehrzeit je lange genug und jede Erkenntnis, die materiellen Vorteil verfolgt, nicht nur korrupt, sondern überdies von Verblendung bedroht ist.
Nicht stets ja muß das Lied dessen Recht haben, dem der Sänger sein Brot verdankt. Dieser Mangel an Leidenschaft für die Sache der Bildung ist um so bedauerlicher, als ihrer kompromißlosen Befürwortung zwei Argumente zur Verfügung stünden, die auch bei einer dem Nützlichkeitsdenken verschriebenen Gesellschaft auf Gehör stoßen müßten: denn zum einen sind gebildete Menschen, dank mannigfaltiger Interessen und vielseitiger Betätigungsmöglichkeiten, zufriedenere sowohl als produktivere Erwerbslose – zum andern ist jeder echte Fortschritt planendem Kalkül entzogen und tritt nur ungenötigt ein.
Die Zukunft, die geschäftiger Eifer uns heute voreilig zurüstet, ist bestenfalls die Fortschreibung der jüngsten Vergangenheit und wird sich sicher als rückständig erweisen, sobald sie wirklich anbricht; nur aber, wer die Bildung nicht zur Dienstmagd seines beschränkten Gesichtskreises erniedrigt, darf hoffen, auch künftig von ihren Erträgen zu profitieren, die er sich heute noch nicht einmal zu erträumen versteht.
Michael Hoyer, Bielefeld