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Sven Ferchow. Selfie

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Kein Sommerhit

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Ferchows Fenstersturz 2023/09
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Hören Sie die Stille? Dann weinen Sie gerne hemmungslos. Wie ich – seit Anfang Juni. Denn: Es gibt keinen Sommerhit 2023. Diesmal hat es die Branche richtig versaut.

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Die Hälfte der Beschäftigten lässt sich seit Wochen mit Traktoren aus Festival-Schlammwiesen ziehen und kann keinen Sommerhit casten. Die andere Hälfte wird – immer noch coronabedingt – mit Nebenjobs bei Konzertveranstaltern geknechtet und hilft beim Geldzählen. Was waren das für Zeiten. Damals. 2022. Als die Etablissement-Besitzerin „Layla“ ein Land in den Abgrund stürzte, Politiker ob ihrer Haltung zu „Layla“ zwischen Karriereaus oder zwei Prozent Zustimmungsquote taumelten, Volksfeste vor Absagen standen, wenn „Layla“ auch nur angespielt worden wäre und Eltern ihren Kindern endlich ein Lied beibrachten, das die ganze Familie singen konnte. Herrlich.

Doch die Lage ist ernst. Kein Sommerhit hat Konsequenzen. Erstens. Kommunalpolitiker können ihr Empörungspotential nicht ausschöpfen. Eine klare Meinung zum Sommerhit hieß früher, das Bierzelt wahlweise die Mehrzweckhalle zu teilen wie Moses einst das Meer. Damit ließ sich die Wahlbeteiligung regulieren. Mehr Empörung – mehr Wähler. Kein Sommerhit ist also demokratiegefährdend. Zweitens. Kein Sommerhit ist ein wirtschaftlicher Albtraum. Arbeitsplätze sind unter anderem auf dem Oktoberfest gefährdet. Keine Promis mehr, die der Festkapelle Bakschisch zustecken, um den Sommerhit zu dirigieren. Schwarzgeld, das nicht mehr im Geldkreislauf ankommt. Und das – oft seit dem Vorjahr – auf den Biertischen stehende, aber auf den Sommerhit wartende Fußvolk kann sich so keinem Höhepunkt entgegenbechern, wenn der Hit fehlt. Bedeutet. Weniger Umsatz. Jammernde Festwirte. Und ein tobender ­Aiwanger, der Subventionen für seine Zeltbetreiber fordert. Drittens. Kein Sommerhit hat einschneidende Folgen für Jugendliche. Ohne Sommerhit kein Lebensinhalt. Zu welchem Song sollen die sich bitte in den Innenstädten der Republik zusammenrotten, so richtig volllaufen lassen und danach randalierend den Sommerhit grölend durch die Gassen ziehen? Zahlreiche Mediziner warnen vor den Folgen: Jugend­liche, die plötzlich Wasser statt Alkopops trinken, würden das Gesundheitssystem auf eine kaum zu bewältigende Belastungsprobe stellen. Ebenso machen sich erste Bildungspolitiker große Sorgen, dass Jugendliche ob des mangelnden Rausches wieder ganze Sätze sprechen könnten. Zahlreiche Unterstützungsangebote wie „Gehst du Bus ist keine Aufforderung“ stünden vor dem Aus. Gesundheitsminister Lauterbach denkt Insidern zufolge schon über eine kontrollierte Abgabe sogenannter „Gratisproben“ nach, um Alkopops nicht völlig aus dem Blickfeld der Jugendlichen verschwinden zu lassen. Wenn Sie nun besorgt sind, weil Sie die Tragweite eines fehlenden Sommerhits unterschätzt haben, dann machen Sie es doch wie ich. Summen Sie stur und unbeirrt den ganzen Sommer lang: „Oh, wie ist das schön… Oh, wie ist das schön… Sowas hat man lange nicht geseh‘n…“

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