Zeitungslektüre auf dem Flug von Tokio nach München. Der Soziologe Ulrich Beck, erfolgreicher feuilletonistischer Trendsetter („Risikogesellschaft“, „Reflexive Moderne“), breitet in der FAZ seine neuesten Erkenntnisse in Sachen Kosmopolitismus aus. Er stellt fest, dass die Armen des Südens zu Organlieferanten des weißen Mannes im Norden geworden seien und ihm in ihrer Not „eine Niere, einen Teil ihrer Leber, eine Lunge, ein Auge oder auch einen Hoden“ verkauften: „Muslimische Nieren reinigen christliches Blut. Weiße Rassisten atmen mit der Hilfe schwarzer Lungen. Der blonde Manager blickt mit dem Auge eines afrikanischen Straßenkindes auf die Welt. Ein katholischer Bischof überlebt dank der Leber, die aus einer Prostituierten in einer brasilianischen Favela herausgeschnitten wurde.“ Christen, Rassisten, ein Manager und ein Bischof: die bekannten Hassfiguren des aufgeklärten Feuilletons als blutsaugende Menschheitsparasiten.
Welcome Germany! Nach zehn Tagen Pause wieder mit der hierzulande üblichen intellektuellen Gehässigkeit konfrontiert, lernt man, dass es beim Kosmopolitismus mitnichten um verbesserte zivilisatorische Möglichkeiten geht wie in Japan, sondern um den Horror einer Rassenvermischung mit Hilfe des Chirurgenmessers. Das natürlich auf der Basis brutalster Ausbeutung, denn zu anderem ist die miese weiße Rasse ja nicht fähig. Und da der Vordenker Beck weiß, dass auch er dazugehört, mischt er seinem Zerrbild eine kräftige Portion kollektiver Selbstverachtung unter. Er zelebriert seine Kosmopolitisierung als Züchtigung des alten deutschen Michels aus Heinrich Heines Zeiten, der in seinem Professorenhirn noch immer sein Unwesen treibt. Becks Zuchtrute ist die Herrschaftssprache des Intellektuellen, der seine Zombiefantasien den Leuten mit Predigerfuror in die Köpfe hämmert. Dumm nur, dass das Volk, der alte Lümmel, nicht auf seine Feuilletonpredigt hört.
Kosmopolitismus, Strafe oder Chance? In Japan ist man offensichtlich für die zweite Version. Gegen Endes des 19. Jahrhunderts löste sich das Land aus seinem isolierten Inseldasein und ist seither gegenüber fremden Einflüssen vorbehaltlos offen. Heute ist es nicht nur ein führender Industriestandort und viertstärkste Exportnation der Erde, dessen Produkte in unseren Wohnzimmern, Büros und Garagen stehen, sondern auch ein Land, wo die europäische Musik Millionen begeisterter Anhänger findet. Der japanische Sender NHK produziert und sendet seit Jahrzehnten westliche klassische Musik. In der Suntory Hall in Tokio, die 1986 von einem musikliebenden Mäzen gestiftet wurde und sowohl architektonisch als auch akustisch zu den schönsten Sälen der Welt gehört, treten nebst japanischen Musikern regelmäßig europäische Spitzenorchester auf; die über zweitausend Plätze sind stets ausverkauft. Jeden September gibt es hier auch ein gut besuchtes Festival mit neuer Musik. Die Konservatorien bilden hervorragende Instrumentalisten aus, und landesweit gibt es zahllose Laienchöre, die sich dem Chorschaffen von Schubert bis Orff widmen.
Eine Besonderheit, auch für unsere Breitengrade, ist das von Toshio Hosokawa geleitete Festival für neue Musik in der kleinen Provinzstadt Takefu. Klassik und Zeitgenössisches sind in den Konzerten gemischt, musiziert wird auf hohem Niveau, Kompositionskurse ergänzen das Programm. Das Publikum rekrutiert sich zum großen Teil aus Einheimischen. Träger des Festivals ist der lokale Laienchor, der jedes Mal auch selbst auftritt – diesmal mit einem Chorliederzyklus von Benjamin Britten. Seine Mitglieder sind allabendlich vor Ort präsent, an der Kasse, hinter der Bühne, als Programmverkäufer. Die Finanzmittel stammen aus Mitgliederbeiträgen, Privatspenden und vielen kleinen Sponsorenbeiträgen. Das Geld ist begrenzt, der Enthusiasmus umso größer, und über die Kürzung der Zuschüsse der notleidenden öffentlichen Hand wird nicht gejammert.
Diese Beobachtungen mögen sich auf herausgehobene Einzelereignisse im Kulturleben beziehen. Doch ist auch im Alltag auf Schritt und Tritt spürbar, mit welcher Unvoreingenommenheit die Japaner die westlichen Einflüsse in ihr Leben integriert haben. Dies gilt auch für den American way of life, der ihnen nach einem schrecklichen Krieg 1945 aufgezwungen wurde: Sie haben ihn in einen unvergleichlichen Wirtschafts- und Technologieschub transformiert. Unter der Oberflächenschicht der Fremdeinflüsse blieben die eigenen kulturellen Wurzeln immer erhalten. Die jungen Komponisten, die bisher ganz nach Westen ausgerichtet waren, beginnen, sich angesichts des technoiden Globalsounds, der sich im Internet ausbreitet, neue Fragen zu stellen.
Zu den Horrorvisionen des deutschen Feuilletons verhalten sich solche Akkulturationsprozesse wie Tag und Nacht. Man holt sich das Beste aus den fremden Kulturen und amalgamiert es mit den eigenen Traditionen. So entsteht Zukunft. Herr Beck dagegen macht die Frage des Kosmopolitismus am Zweithoden für den weißen Herrenmenschen fest. Gut für ihn: Er als Professor erhielte im Ernstfall mit Sicherheit einen zertifizierten deutschen.