Auch in diesem Sommer wartet das Rheingau-Musik-Festival mit einer Erfolgsbilanz auf: Vom 22. Juni bis zum 31. August gab es 146 Konzerte an 37 Spielstätten; die Auslastung betrug 92,5 Prozent, der Anteil der Eigenfinanzierung 99,69 Prozent. Intendanz, Geschäftsführung und Dramaturgie, so hat es den Anschein, wandeln auf vertrauten, auf sicheren Wegen. Was aber doch aufhorchen ließ, war der Leitgedanke: „Courage“.
Ein Jahresmotto, das dem in Vielfalt auseinanderstrebenden Programm eine Art lockeres Gerüst gibt, ist beim Rheingau-Musik-Festival schon länger üblich. „Courage“ aber fällt doch aus der Reihe. Schon in der Saisonvorschau nahm der Begriff breiten Raum ein; etliche der eingeladenen Künstler äußerten sich dazu, und Festival-Dramaturg Markus Treier begründete ihn: „Wir leben in bewegten Zeiten, in denen der Einsatz des Einzelnen für die Gesellschaft immer wichtiger wird. Denn eine Welt, die aus den Fugen gerät, geht uns alle etwas an.“ Um es zugespitzt zu sagen: Schöne Musik an malerischen Orten mit gutem Wein – das reicht anscheinend auch dem darin bestens aufgestellten Rheingau-Musik-Festival nicht mehr.
Während „Mut“ eher eine innere Haltung beschreibt, erwarten wir bei „Courage“ auch, dass sie sichtbar und hörbar wird. Markus Trier schreibt: „Menschen, die im Bewusstsein der Risiken und eines ungewissen Ausgangs etwas Gutes tun, wirken als Vorbilder. Dann kann Courage gesellschaftliche Kraft entfachen.“ Mehr als früher fand sich im Programm, was man „engagierte Musik“ nennt: Fazil Say konnte seine Kompositionen „Gezi Park“ 1, 2 und 3 präsentieren. Der Pianist Saleem Ashkar gastierte mit dem Galilee Chamber Orchestra, in dem Juden und Araber gemeinsam musizieren. Unter dem Motto „Long Walk to Freedom“ kombinierte das südafrikanische Bochabela String Orchestra Joseph Haydns „Nelson Messe“ mit südafrikanischen Anti-Apartheid-Gesängen. Und mit dem wiederholten Gastspiel der Cuban-European Youth Academy engagierte sich das Festival für die Fortsetzung eines fruchtbaren Kulturaustauschs.
Warum über manchen Programmen der Leitgedanke „Courage“ ausdrücklich stand, über anderen dagegen nicht, ließ sich nicht immer erschließen. Als zivilgesellschaftliches Engagement kann man sicherlich verbuchen, dass der Countertenor Andreas Scholl und seine Frau, die Pianistin Tamar Halperin, die Einnahmen ihres Konzerts auf Schloss Johannisberg der Wiesbadener Bärenherz-Stiftung zukommen ließen. Ihr Programm „Twilight People“ aus eher introvertierten Liedern und temperamentvollen Klavier-Intermezzi möchte man aber nicht unbedingt „couragiert“ nennen. Mutig war es indessen schon, einen stimmigen und stimmungsvollen Spannungsbogen aus sehr verschiedenen Liedern von Alban Berg, Benjamin Britten, Arvo Pärt, Ralph Vaughan Williams und anderen sowie Klaviermusik von John Cage zu konstruieren.
Programmatischen Mut in hohem Maße bewies die Sopranistin Christiane Karg, die als Fokus-Künstlerin an sechs Konzertabenden präsent war. Sie möchte nicht, erklärte sie dem Festival-Magazin, dass die Besucher „nur zum Konzert kommen, weil Mozart oder Schubert auf dem Programm stehen, sondern dass sie sich mir anvertrauen, es wagen, mit mir Neues zu erkunden, ihren Geist zu öffnen.“ Tatsächlich überließ sie bei ihrem ersten Abend in der Ingelheimer Konzert- und Kongresshalle gleich die gesamte zweite Konzerthälfte dem sie begleitenden Klaviertrio. Renaud Capuçon (Violine), Clemens Hagen (Violoncello) und Daniil Trifonov (Klavier) spielten Peter Tschaikowskys langes a-Moll-Trio mit existentiell aufgeladener Intensität. Dass Kammermusik tatsächlich einen ganzen Saal beim Schlussapplaus von den Stühlen reißt, erlebt man selten. Darüber konnte man fast vergessen, was Karg für die ersten Konzerthälfte ausgegraben hatte: vier lohnende Lieder der hierzulande kaum bekannten US-amerikanischen Komponistin Amy Beach (1867–1944) für Stimme, Klavier und ein oder zwei Streichinstrumente.
Bei ihrem ersten Konzert-Abend auf Schloss Johannisberg sang Karg ein reines Schubert-Programm aus lauter Repertoire-Raritäten (bis hin zu einer virtuosen italienischen Konzertarie aus Schuberts Kompositionsunterricht bei Salieri). Der zweite Abend begann zwar mit Robert Schumanns „In der Fremde“ aus dem „Liederkreis“op. 39, führte dann aber weit aus dem mitteleuropäischen Kulturkreis hinaus in die Fremde. Genannt sei hier nur „Vignettes: Ellis Island“, ein epigrammhafter Song-Zyklus des US-amerikanischen Komponisten (Jg. 1955) Alan Louis Smith aus dem Jahr 1999, der auf prägnante Weise die Erinnerungen von Immigranten zu musikalischen Miniaturen verdichtet.
Wie stark aber die programmatischen Plädoyers für Courage von der politischen Realität eingeholt würden, ahnte zu Jahresbeginn wohl keiner der Beteiligten. Für das Eröffnungskonzert hatte man den Frankfurter Publizisten Michel Friedman zu einer Ansprache über das Motto eingeladen. Friedman traute sich, sein ursprüngliches Konzept bei Seite zu legen und das anzusprechen, was gerade in Hessen viele Menschen bewegte: der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke drei Wochen zuvor. Wie soll eine demokratische Gesellschaft noch funktionieren, wenn jeder Politiker, der einen umstrittenen Satz sagt, mit dem Tode rechnen muss? Viele regionale und lokale Volksvertreter, denen kein Polizeischutz zusteht, berichten von verbalen Angriffen und Morddrohungen. Er sei „als Bürger den Politikern dankbar, dass sie ihre Arbeit machen,“ sagte Friedman. Es gelte, schon den verbalen Anfängen der Gewalt, zum Beispiel auf den Fußballplätzen, Einhalt zu gebieten und Gesicht zu zeigen. „Wie oft nehmen wir das Gespräch auf, in der Familie, im Job, im Verein?“ Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier erinnerte in seiner Eröffnungsansprache daran, dass der Komponist Antonín Dvorák sein „Stabat mater“ op. 58 nach dem Tod seiner drei Kinder geschrieben habe.
„Doch am Ende – sagen die Experten – scheint Hoffnung auf“, fügte er vorsichtig hinzu. Das Solistenquartett konnte sich von unpassender Operndramatik zwar nicht so recht lösen. Doch der von Philipp Ahmann einstudierte MDR-Rundfunkchor und das HR-Sinfonieorchester unter Andrés Orozco-Estrada machten das 90-Minuten-Werk zu einer eindrücklichen Meditation über Verletztlichkeit und Trost.